Donnerstag, 18. Dezember 2008

Im Lazarett der Besiegten

Meinen siebten Lebenssommer, den des Jahres 1945, verbrachte ich zu einem guten Teil in Falkenau, der Kreisstadt meines Heimatortes Liebauthal. Beide egerländer Orte findet man nur schwer noch unter ihren ursprünglichen Namen, Falkenau firmiert heute unter Sokolov, die Kolonie Liebauthal als Libavské Údolí. Drehpunkt meiner Tage in Falkenau war ein düsteres weiträumiges Gebäude zwischen dem Stadtschloss und dem Marktplatz, das mir unter der Bezeichnung „Amtshof“ in Erinnerung ist. Nach Kriegsende hatten die Amerikaner den gesamten Komplex requiriert und darin, neben militärischen Verwaltungsstellen, eine Pflegeabteilung für russische Kriegsgefangene eingerichtet. Die waren nach ihrer Befreiung aus umliegenden Lagern aufgesammelt worden, aber durch die Bedingungen ihrer Haft so schwer krank, dass keiner von ihnen überlebte. Dass ich, der kleine Deutsche, von einer solchen Einrichtung der Sieger überhaupt wusste, mag merkwürdig erscheinen, erklären lässt sich diese Kenntnis jedoch recht einfach: Hier besuchte ich zuweilen meine Großmutter Marie Nehyba, damals eine resolute Frau um die 50, die kurz nach ihrer Entlassung aus deutschem Sanitätsdienst von der Besatzungsmacht zur Pflege der russischen Patienten in den Amtshof verpflichtet worden war. Während meiner Besuche in Falkenau genoss ich freie Unterkunft mit echt amerikanischer Kost und verfügte über reichlich Zeit für Streifzüge durch die okkupierte Stadt und ihr näheres Umland. Einige Ereignisse und Eindrücke aus dieser "Zeit zwischen den Zeiten", als formell zwar längst die Waffen schwiegen, die Wunden des Krieges aber noch vielfältig sichtbar waren, stehen mir mehr als sechs Jahrzehnte noch immer lebhaft vor Augen. Wovon folgende Episode zeugen mag:

Ein warmer Sommertag neigte sich schon dem beginnenden Abend zu, als die Großmutter mich einlud, sie hinaus vor die Stadt zu begleiten. Sie war, als wir aufbrachen, gekleidet in ihre Dienstuniform, die sie als Schwester des Roten Kreuzes auswies. Denn unser Ziel sollte ein Lazarett sein, das Lazarett für jene deutschen Soldaten, die noch bei Rückzugsgefechten mit der US-Armee in Westböhmen verwundet worden waren. Neben der Sorge für die sterbenden Russen gehörte es nämlich auch zur Pflicht der Schwester, die Pflege ihrer besiegten Landsleute zu überwachen.

Nachdem wir die letzten Häuser Falkenaus in Richtung Kaiserwaldgebirge hinter uns gelassen hatten, gerieten wir in eine Gegend, die sich als ödes Brachland mit Unkraut und Buschwerk vor uns ausbreitete. Zwischen der spärlichen Bepflanzung erstreckten sich ausgedehnte Flächen roter Erde ohne Mutterboden und ohne Vegetation. Ein Gebäude allerdings, das meinem Bild von einem Lazarett entsprach, war weit und breit in dieser Wüstenei nicht auszumachen. Lediglich in einiger Entfernung eine Baracke, deren Zweck ich zunächst aber nicht erkannte. Erst als die Großmutter geradewegs das schäbige Bauwerk ansteuerte und, mich im Schlepptau, den Eingang an seiner schmalen Seite durchschritt, ging mir auf, dass wir tatsächlich am Ziel waren. Ich konnte es kaum fassen. Lazarette waren für mich nach eigener Erfahrung große, stabile Häuser. Das hier hingegen glich eher einem Elendsquartier. Was ich damals freilich nicht wusste und auch heute nur vermuten kann: dass vielleicht in eben diesem Bauwerk unter deutscher Herrschaft ebenfalls Menschen hausten, russische Kriegsgefangene oder sogar KZ-Häftlinge. Zumindest gibt es Berichte amerikanischer Zeugen über Konzentrationslager in der Nähe Falkenaus. Es konnte sich aber auch um eine ehemalige Militärbaracke gehandelt haben. Jetzt aber beherbergte die Baracke kranke und verletzte deutsche Ex-Soldaten.

Als wir das Barackeninnere betraten, saßen oder lagen die Blessierten auf Pritschen, die mit Weißzeug überzogen waren und sich beidseits des Längsganges dicht aneinander reihten. An Leinen, die sich von Balken zu Balken zogen, hingen Wäschestücke, zur Kühlung standen alle Fenster offen. Die Schwester grüßte, und sogleich scholl ihr ein vielstimmiges "Hallo" entgegen, vermischt mit Zurufen, die Freude über ihre Ankunft und Vertrautheit mit ihrer Person verrieten. Ihre Antworten auf die Zurufe wiederum bewiesen Geschick im Umgang mit verwundeten Soldaten. Ich merkte, ohne mich an einzelne Worte zu erinnern, dass jeder dieser geschlagenen "Landser" und "Kerle" - meine Großmutter sprach von Soldaten nur in diesem Jargon - auf ihre Zuwendung und Fürsprache zählen durfte, dass sie sich nicht allein um ihre Pflege kümmerte, sondern auch ihr "Anwalt" bei den Siegern war.

Indes, unsere Visite galt nicht allein den Männern in der Massenunterkunft. Durch eine Tür am Ende des Mittelganges der Baracke betraten wir einen Raum, in dem sich lediglich drei Betten, richtige Betten, keine Pritschen also, befanden. Zwei waren nebeneinander angeordnet, das andere stand etwas abseits davon. Von diesen Betten her aber wurden wir nicht fröhlich begrüßt. Statt dessen herrschte in diesem Zimmer eine geradezu spürbar unheilvolle Stille. Mit dem zunächst einzig sichtbaren Bettinsassen wechselte die Schwester ein paar Worte, so leise, dass ich davon nichts verstand. Später dann, wohl draußen oder gar erst nach unserer Heimkunft, bezeichnete sie diesen Kranken als "Todeskandidaten", nannte mir den Grund für dieses Urteil aber nicht. Bei dem Gespräch muss es, das entnahm ich den Gesten, um den Patienten im Nachbarbett gegangen sein. Dessen Liegestatt fiel zunächst vor allem durch einen zeltförmiger Aufbau aus Tüll ins Auge. Was sich dahinter verbarg, wurde erst sichtbar, als die Schwester das Gewebe ein wenig zur Seite schob. Ich erblickte, nur für ein paar Sekunden, das zerstörte Gesicht eines Menschen. Es ruhte unbeweglich auf einem Kissen und glänzte lachsrot, was bei mir den Eindruck einer lackierten Maske hervorrief, ein Bild, das sich mir genau so einprägte wie die Baracke, die das Schauerliche barg. Wiederum erst später erfuhr ich, daß brennender Phosphor die Gesichtshaut des Unglücklichen abgelöst und so das Fleisch darunter bloßgelegt hat. Ein hoffnungsloser Fall auch der und trotzdem nicht der schlimmste in dieser Schreckenskammer.

Den barg - im wahrsten Sinne des Wortes - die dritte Lagerstatt. Vollständig von einem feuchten Laken bedeckt, verdämmerte darin unter leisem, aber deutlich vernehmbarem Wimmern das Leben eines jungen Menschen. Obgleich eigentlich ein Zivilist, hatte es doch Gründe für seine Aufnahme in das Militärlazarett gegeben: Zum einen war er wie ein Soldat kriegsbedingt lädiert, zum anderen sollte er aus Königsberg oder dessen näherer Umgebung stammen, von amerikanischem Besatzungsgebiet also. Die Ursache seines Unglücks kannte ich bereits, es war tagelang Gesprächsstoff auch in meinem Wohnort Liebauthal: Daraus war zu entnehmen, daß ein Halbwüchsiger eine Granate, die Soldaten hinterlassen hatten, geöffnet und dann ihr "Pulver" angezündet habe. Von einer "Stichflamme" war die Rede, die dem Buben die gesamte Vorderseite seines Körpers vom Gesicht bis zu den Füßen verbrannt habe.

Freilich, niemand wusste genau, wieviel an den Erzählungen über das schlimme Ereignis der Wahrheit entsprach und was davon auf die Phantasie der Übermittler zurückging. Man tat in jenen zeitungslosen Tagen gut dran, dem bloß Gehörten und Gesagten lieber zu mißtrauen. Am sichersten noch war es, den Inhalt einer Nachricht oder eines Gerüchtes durch eigenen Augenschein zu überprüfen. Und eben eine solche Chance bot sich mir jetzt hier in dieser Baracke am Rande Falkenaus.

Vom Fußende des Bettes her lüftete meine Führerin das Leintuch, unter dem sich schwach die Konturen des Patienten abzeichneten. Zum Vorschein kamen dabei zwei dünne Beine, die von den Fußrücken bis zu den Knien ein brauner Schorf bedeckte. Das sah aus, als sei die Haut von einer Schmutzschicht überzogen. "So zugerichtet ist auch seine Brust und sein Kopf", flüsterte mir die Großmutter zu. Nur sein Bauch sei unversehrt geblieben, weil er bei dem Unfall gehockt habe. Dann legte sie die schützende Hülle wieder sanft auf die versengten Glieder des Wimmernden. Und damit bricht meine Erinnerung an diesen Krankenbesuch ab.

Wenig später, ich war inzwischen nach Liebauthal zurückgekehrt, fiel mir ein kleines Lastauto auf, das von Königsberg her in Richtung Falkenau fuhr. Auf seiner Pritsche lag, mit Seilen befestigt, als einzige Ladung ein Sarg aus rohem Holz. Da mir zu Ohren gekommen war, daß der verbrannte Junge am Tag vorher gestorben sei, glaubte ich fest, das Auto hole ihn für seine letzte Fahrt. Und so mag es wohl auch gewesen sein.

Epilog

53 Jahre vergingen nach meiner kurzen Begegnung mit dem unglücklichen, mir damals unbekannten Buben in Falkenau, ehe ich mehr durch Zufall als durch systematische Recherche erfuhr, wer damals eigentlich unter dem Laken in der Sanitätsbaracke lag. Es war Friedrich „Fritz“ Tischler aus Königsberg an der Eger das ältere von zwei Kindern des Ehepaares Josef Tischler und Maria Tischler, geb. Rauscher, geboren am 18. 7. 1931 und schließlich mit noch nicht ganz 14 Jahren am 3. Juni 1945 seinen Brandverletzungen erlegen, die er sich etwa zwei Wochen zuvor zugezogen hatte.

Wie war es zu der Tragödie gekommen? Lassen wir zuerst den ehemaligen Königsberger Polizeibeamten Paul Ley zu Wort kommen, der sich 1963, obgleich keine Augenzeuge, folgendermaßen laut dem Bruder des Verunglückten zu dem Geschehen geäußert hat. „Für mich“, so Ley, „scheint es zweifelsfrei, dass das Unfallereignis, an dessen Folgen Friedrich Tischler gestorben ist, nicht geschehen wäre, wenn Soldaten keine Munition weggeworfen oder liegengelassen hätten. Zur Begründung führe ich an: Königsberg an der Eger lag im Kampfgebiet. Die deutschen Truppen zeigten Auflösungserscheinungen, und etwa 15 Kilometer von Königsberg entfernt fand der Krieg in diesem Raum seinen Abschluss. Soweit ich mich erinnere, sind amerikanische Truppen am 5. Mai 1945 in Königsberg eingerückt. Von da an begann eine Art gesetzlicher Zustand. Der Unfall hat sich meiner Ansicht nach Mitte Mai zugetragen und zwar im Hofraum Nr. 443. Dort lag Munition teilweise im Gelände verstreut, die vermutlich von Jugendlichen dorthin gebracht wurde“. Um welche Art von Munition es sich handelte und wie „der Unfall“ ausgelöst wurde, darüber könne er, Ley, nichts sagen. Erste medizinische Hilfe habe seines Wissens der (Königsberger) Arzt Dr. Anton Ott geleistet. Sachbearbeiter der Angelegenheit sei der Polizeioberwachtmeister Johannes Dobner gewesen.

Merkwürdig: warum sagte der Polizist nichts über den Hergang jenes „Unfalls“, während er doch präzise den Unfallort benennt? Und warum ist in seinem Bericht nicht davon die Rede, dass der Unfall noch ein zweites Todesopfer gefordert hat? Es sollen nämlich damals, wieder laut dem Bruder Tischlers, zwei Königsberger Buben, neben Fritz Tischler auch dessen Freund Josef „Sepp“ Sandner, umgekommen sein. Zum Verhängnis wurde ihnen tatsächlich der Umstand, dass noch Wochen nach Kriegsende ungenutzte, also scharfe Munition frei in der Landschaft herumlag. Beide, Tischler und Sandner, gehörten zu einer Gruppe Jugendlicher, die immer wieder loszog, um im Umkreis aufgegebener deutscher Geschützstellungen intakte Geschosse zu sammeln und zu knacken. Aus den Kartuschen, so erinnerte sich einer, der damals mit dabei war, kamen zunächst Explosivsubstanzen in Form von Stäbchen zutage und dann Säckchen, in denen sich Pulver befand. beides leicht entzündbar und für allerlei Feuerwerksspiele zu verwenden.

Mit einer solchen Beute waren die Buben an einem Maitag 1945 wieder einmal unterwegs. Zwei von ihnen, Tischler und Sandner, befanden sich bereits im Hinterhof der Königberger Bürgerschule (von Polizist Ley als Hofraum Nr. 443 benannt) und hatten ihre Stäbchen nahe der Grundstücksgrenze des Schulgebäudes aufgehäufelt. Da geschah es: Die Stäbchen fingen Feuer, es kam zu einer heftigen Verpuffung, und die damit einhergehende Flamme erfasste beide Buben, angeblich weil sie durch das Feuer hindurch in Richtung einer Umzäumungstür fliehen wollten (die sich allerdings als abgesperrt erwies). Wie es zur Entzündung der explosiven Stäbchen überhaupt gekommen war, konnte später nicht mehr genau ermittelt werden, spekuliert wurde, es könne mit einer in der Nähe befindlichen Ablagerung noch glühender Asche zu tun gehabt haben. Josef Sandner erlitt derart starke Verbrennungen, so dass er noch am gleichen oder folgenden Tag starb; Tischler wurde nach Falkenau transportiert, wo auch ihm nach qualvollem Leiden nicht mehr zu helfen war. Möglicherweise, meinte ein Augenzeuge im Rückblick, seien die Verbrennungen noch verstärkt worden, weil beide die schon erwähnten Pulversäckchen in den Hosentaschen hatten und die sich durch die Stichflamme zusätzlich entzündeten. Aber auch das ist Spekulation. Der Vorfall jedenfalls war spektakulär genug, um selbst das benachbarte Liebauthal in Aufregung zu versetzen. Und mir wurde das arme Verbrennungsopfer wahrscheinlich vorgeführt, um mich vor ähnlichen Spielereien mit dem Feuer zu warnen.

Mittwoch, 17. Dezember 2008

Ein gewagter Grenzübertritt

Obwohl erst 6 Jahre alt, hielt ich mich nach Ende des Krieges des öfteren in Falkenau, der Kreisstadt Liebauthals, auf. Verdankt habe ich das dem Umstand, dass hier meine Großmutter Marie Nehyba im Dienste der US-Besatzungsmacht ehemalige russische Kriegsgefangene pflegte. Allerdings kannte ich die Stadt bereits von früheren Besuchen, einer davon kurz nach einem Bombenangriff, der in einer Straße nahe der Stadtkirche einen tiefen Krater hinterlassen hatte. Aber das sind nur sehr undeutliche Erinnerungssplitter. Viel besser im Gedächtnis indes blieben mir Erlebnisse aus den Nachkriegsmonaten, wie etwa folgendes:

Mit zunehmender Entfernung vom Kriegsende nahte allmählich der Spätsommer des Jahres 1945. Das Egerland war nach mehr als sechs Jahren Zugehörigkeit zum nazistischen "Großdeutschen Reich" wieder Teil der Tschechoslowakei geworden, Falkenau aber stand noch immer unter Kuratel der Amerikaner. Die Amis waren mit ihren Panzerverbänden nach Durchquerung Deutschlands bis zu uns nach Westböhmen vorgedrungen, hatten ihren Vormarsch aber abgebrochen und damit ihren russischen Verbündeten die Möglichkeit verschafft, den größeren Teil Böhmens zu erobern, ein Vorgang, über dessen Motiv Jahrzehnte später noch herumgerätselt wurde. Das kleine, amerikanisch kontrollierte Territorium Böhmens und die sowjetische Einflusszone trennte jetzt eine sogenannte Demarkationslinie, ein Streifen Niemandsland, der teilweise knapp östlich Falkenaus verlief, wo meine Großmutter Marie Nehyba in amerikanischem Sanitätsdienst stand. Zuweilen hörte man aus Richtung dieser merkwürdigen Grenze, die die siegreichen Waffenbrüder gegen Deutschland zwischen sich gezogen haben, Schüsse. Die stammten, so erzählte man sich in der Stadt, aus Gewehren russischer Soldaten. Nähere sich den Russen nämlich im Bereich des Niemandslandes eine Person, nähmen sie diese ohne Warnung sofort unter Feuer. War es da nicht geradezu eine Herausforderung des Schicksals, dem "russischen" Gebiet einen Besuch abzustatten? Einen solchen Plan nämlich hegten wir tatsächlich eines Tages.

Wir, das waren die bereits erwähnte Großmutter, dazu ich, ihr noch nicht ganz siebenjähriger Enkel, sowie meine Tante Emma Kühnl, geborene Träger, von Herkunft wie ich eine Liebauthalerin, aber schon seit längerem eine Bürgerin der Kreisstadt. Zu welchem Zweck jedoch planten wir ein solches "Himmelfahrtskommando". Zu keinem anderen, als uns Obst zu besorgen, genauer Birnen, die angeblich in dem Dorf Lanz prächtig gedeihen sollten. Der Haken an diesem Vorhaben bestand aber eben darin, dass Lanz bereits zum russisch besetzten Gebiet Westböhmens gehörte. Um dorthin zu gelangen, musste man also das Niemandsland durchqueren und dann, glaube ich, den Russen Passierscheine vorweisen, die wir natürlich nicht besaßen.

Doch wozu benötigt man Papiere, wenn man genug Wagemut aufbringt! Angst vor dem "Iwan"? Davon wollte meine Großmutter nichts wissen. "Und außerdem", versuchte sie die furchtsamere Tante zu beruhigen, "kann ich doch Tschechisch". Wolle uns ein Russe kontrollieren, und damit war wohl zu rechnen, gäben wir uns einfach als Tschechen aus, und denen geschehe ja bekanntlich von den Russen nichts. Aber die Schüsse auf unbewaffnete Zivilisten? Also das könne sie sich wirklich nicht vorstellen, konterte die Großmutter. Gerüstet mit soviel Zuversicht, überschritten wir bei herrlich blauem Himmel die Egerbrücke, durchwanderten das Industriedorf Zwodau und erreichten bald das gerade Band der Landstraße nach Lanz, über deren Fläche die aufgeheizte Luft flimmerte. Entsinne ich mich richtig, begleitete uns rechter Hand ein Wäldchen, das vom Weg durch einen breiten Feldstreifen getrennt war. Verbargen sich etwa in diesem Gehölz schon die Russen? Oder gehörte dieser Landstrich noch den Amis, fragten sich die drei auf ihrer Wanderung ins Ungewisse. Behaglich, das spürte man, war keinem zumute. Doch alles blieb friedlich, nichts Verdächtiges rührte sich, man hörte nur Grillen zirpen, sah aber keine Menschenseele weit und breit.

Mit einemmal jedoch hielt eine der beiden Frauen inne. Unsere Blicke richteten sich geradeaus auf ein Objekt, das noch ein gutes Stück von uns entfernt an der Straße stand. Nach kurzem Rätselraten einigten wir uns darauf, dass es sich nur um ein Wachhäuschen handeln konnte. Dort also, schlossen wir aus unserer Entdeckung, verlief die ominöse Grenze, hinter der das russische Reich begann. Befremdend nur: das Häuschen schien unbemannt. Sollten wir aber, unserem Ziel schon ziemlich nahe, vor einem leeren Wachhäuschen zurückweichen? Das nun doch nicht! Entschlossen nahmen wir unseren Marsch wieder auf, zugegeben, von nun an vielleicht noch etwas zögerlicher als bislang. Nichts anderes bewegte sich auch weiterhin als die flimmernde Luft über dem heißen Straßenbelag. Kaum aber hatten wir uns dem scheinbar leeren Kasten am Straßenrand bis auf wenige Schritte genähert, geschah etwas, von dem ich heute nicht mehr weiß, wie wir darauf reagierten. Es muß aber eine Mischung aus Verblüffung und Erschrecken gewesen sein. Jedenfalls trat knapp vor uns ein Soldat aus dem Inneren des Häuschens auf die Straße. Mag sein, dass auch er uns bis dahin nicht bemerkt hatte. Was ich jedoch sogleich erkannte: dass es kein amerikanischer Soldat sein konnte. Das sagte mir auf den ersten Blick der Schnitt und die Farbe der Uniform. Das Gewehr geschultert, barhäuptig und mit kahlgeschorenem Schädel schaute uns wirklich ein Russe entgegen. Man muss zugeben: eine gut genährte, saubere Erscheinung. Welch ein Unterschied im Vergleich zu seinem stets in Lumpen gehüllten Landsmann, der bis vor kurzem noch als Kriegsgefangener die Hunte der Luftbahn zwischen Liebauthal und Königsberg mit Kohle belud!

Es lag auf der Hand, dass wir dem Posten unsere Gegenwart hier auf der Straße nach Lanz würden erklären müssen. Also trat meine Großmutter an ihn heran, wünschte ihm tschechisch "dobrý den" und wies auf die leere Tasche, die sie zum Transport der Birnen bei sich trug. Währenddessen kramte sie ein paar weitere Worte aus ihrem Tschechisch-Fundus hervor. Ob der junge Iwan sie überhaupt verstanden hat? Weil er aber wohl schnell erkannte, welch harmloses Volk da über die Grenze wollte, ließ er uns mit einer Handbewegung und etwas verlegen lächelnd in seinen Herrschaftsbereich ein.

Nur wenig später kamen wir in Lanz an. Ähnlich der soeben durchquerten Landschaft wirkte auch das Dorf wie ausgestorben. Wo nur hielten sich die Bewohner auf? Etwa auf den Feldern, um den letzten Rest der Ernte einzubringen? Oder versteckten sie sich, weshalb auch immer, in ihren Häusern? Ein wenig irritiert hat uns die Leere schon. Zum Glück, so beruhigten wir uns, besaßen wir ja eine Adresse, an die wir uns wegen der Birnen wenden sollten. Nur: als wir das entsprechende Anwesen nach kurzer Suche fanden, öffnete niemand, wir mochten noch so heftig klopfen. Aber zurückkehren ohne die begehrten Birnen, nein, das durften wir uns nicht antun nach einem solch riskanten Hamstergang. Irgendwo, so spekulierten wir, müsse das Obst doch schließlich wachsen.

Tatsächlich stießen wir nach einigem Herumschnüffeln an einen Garten, über dessen Zaun ein paar Äste ragten und die wahrhaftig Birnen trugen, gerade noch erreichbar mit ausgestrecktem Arm. Ohne groß auf unerwünschte Zeugen achtend, griffen die Damen hastig nach den Früchten und verstauten das geraubte Gut gleichfalls flink in der mitgeführten Tasche. Mit der Beute (deren Exemplare meiner Erinnerung nach keineswegs den Beschreibungen und hohen Erwartungen entsprachen) traten wir schließlich wieder den Rückzug an, der allerdings noch eine denkwürdige Verzögerung erfuhr.

Entweder wir hatten beim Einzug in Lanz einen anderen Weg genommen als jetzt beim Verlassen des Ortes. Oder sie war erst ins Freie gekommen, während wir schon heftig nach den Birnen forschten. Wie auch immer, jetzt erblickten wir im Schatten eines der Häuser an der breiten Dorfstraße (eigenes Foto von 1995) eine alte, ganz in Schwarz gekleidete Frau. Sie saß auf einem Stuhl und war offenbar beschäftigt. Womit, das nahm ich erst wahr, als wir grüßend an sie herantraten. Die Hände der Alten wirbelten eifrig kleine runde Stöckchen durcheinander. Von jedem dieser Stöckchen ging ein weißer Faden aus, und alle Fäden vereinigten sich auf einem mit Nadeln bespickten Kissen. Befestigt war das Kissen auf einem Gestell mit vier Füssen. Zum erstenmal im Leben sah ich eine Spitzenklöpplerin am Werk. Die emsigen Hände der Klöpplerin ruhten nicht einmal, als Großmutter und Tante ein Gespräch mit ihr anknüpften, allerlei Fragen zu ihrer Kunst stellten und durchaus freundlich Auskunft erhielten - derweilen ich sprachlos auf das verwirrende Fadenwerk starrte. Häkeln, Nähen, Stricken, diese Handarbeiten waren mir vertraut, ich kannte ihren Zweck und ihre Produkte. Wozu hingegen "Klöppeln" nutzte, blieb mir an jenem Nachmittag verborgen. Etwas besonderes musste es wohl sein, davon zeugte schon die seltsame Neugier meiner Begleiterinnen. Und dass die Klöppelkunst im nördlichen Egerland geradezu handwerklich und zum Broterwerb betrieben wurde, davon erfuhr ich überhaupt erst viel später.

Die Zeit drängte. Die langen Schatten auf die Dorfstraße gemahnten uns, der klöppelnden Lanzerin Adieu zu sagen. An der "Grenze" stand immer noch unser alter Bekannnter, der junge Russe. Den Inhalt unserer Birnentasche ignorierte er, vielleicht aus Müdigkeit vom langen Dienst in der Sommerhitze. Eine Inspektion hätte sich auch nicht gelohnt. Denn dass es in Lanz besonders gute Birnen und reichlich davon gäbe, war halt doch nicht mehr als ein Gerücht. Was nicht heißt, dass ich mich nicht gerne an diesen Hamstergang erinnere.
Siegfried Träger

Montag, 15. Dezember 2008

Ein verhängnisvoller Militärunfall

Es war ein ganz normaler Nachmittag im sechsten, also letzten Jahr des 2. Weltkriegs. Mit Ausnahme einiger Tieffliegerangriffe, die kaum Schäden verursachten, war Liebauthal vom Krieg fast unbehelligt geblieben, und das, obwohl in Teilen der großen Textilfabrik ukrainische Fremdarbeiter und dienstverpflichtete deutsche „Arbeitsmaiden“ für eine hierher ausgelagerte Kugellagerfabrik arbeiteten. An eben jenen Nachmittag aber musste etwas Schreckliches geschehen sein. Laut weinend lief eine Frau, die Hände ins Haar verkrallt, an den Mietskasernen der Kolonie entlang und schrie "Blut überall, der arme Mann, Blut überall, der arme Mann". Was war geschehen? Hatte vielleicht ein blutiges Fabriksunglück die Frau derart außer Fassung gebracht? Womit ich auch immer be-schäftigt war, ich ließ es liegen und machte mich zwischen "unterer" und "mittlerer" der drei Reihen Mietskasernen hinauf zur Lenkenstraße, woher die Frau gerannt gekommen war.

Die Szene, die sich mir wenig später bot, war in der Tat erregend: Am obersten Absatz einer Treppe, die am Schulhaus vorbei hinunter zur Fabrik führte, hantierten ein paar Männer mit einer Tragbahre, auf der sie offensichtlich versuchten, einen Soldat in deutscher Uniform zu transportieren. Gellende Schreie ausstoßend, sprang der Soldat immer wieder von der Bahre auf, während Blut über das angstverzerrte, bleiche Gesicht floss. Nur mit viel Mühe schafften es die Helfer, den Tobenden zu bändigen, um ihn in das Portierhaus der Fabrik zu tragen, wo sich ein Sanitätsraum befand.

Nur Augenblicke später und ein paar Meter weiter erkannte ich die Ursache des blutigen Dramas: Zwischen dem Tor der Gärtnerei und dem sogenannten "Baumhaus" (Foto), dort wo die Lenkenstraße von Königsberg her kommend nach steilem Gefälle eine Rechtskurve einschlug, häufte sich ein Berg deformierter Eisenteile auf. In dem Gewirr sah ich zuerst einen umgekippten Panzerspähwagen. Das war ein Kettenfahrzeug mit lenkbaren Rädern vor dem Führerhaus. Jetzt lag der Koloss unbeweglich da, als habe ihn ein Feind im Kampf gefällt. Fast den gesamten Kurvenbereich aber nahm eine Lafette mit Vollgummibereifung ein, daneben kieloben liegend ein riesiges Geschütz.

Zahlreiche Gaffer umringten bereits die Unfallstelle. Aus ihren Gesprächen schnappte ich auf, wie es zu diesem Desaster gekommen sein soll. Aufgeregt erzählte man sich, die Bremsen des Panzerspähwagens hätten versagt, und beim Absturz der Kanone von der Lafette habe das Rohr dem Begleitsoldaten ein Loch in den Kopf geschlagen. Das musste der arme Mensch gewesen sein, den man soeben blutüberströmt und schreiend an mir vorbei getragen hatte - und der, wie am nächsten Tag zu hören war, an seinen Verletzungen noch im Sanitätsraum gestorben sein soll.

Dass dieser Unfall knapp vor Kriegsschluss beinahe mehr als ein Leben gefordert hätte, erfuhr ich erst Jahrzehnte später, bei dieser Gelegenheit allerdings auch die Vorgeschichte und den Ablauf der Todesfahrt. Mitgeteilt hat sie mir ein Zeuge, der das Geschehen von seinem Anfang bis zum bitteren Ende gewissermaßen als blinder Passagier wirklich miterlebt hatte: Josef "Peppi" Kindler, den es wie mich nach der Vertreibung nach Krofdorf bei Gießen verschlug. Peppi, seinerzeit im Gegensatz zu mir bereits ein Schulbub, wusste mir Folgendes zu berichten:

"Im Schabener Wald lagen deutsche Soldaten und bei der Försterei auf einer Wiese nahe der Straße nach Königsberg stand eine Kanone auf einem fahrbaren Untersatz". Diese Kanone sollte die bereits vom Westen her anrückende amerikanische Panzerarmee abwehren. Doch bald erkannte man: Mit einer einzigen Kanone würden wohl kein Panzer mehr aufzuhalten sein, und man entschied, das Geschütz aus Liebauthal in Richtung Osten abzuziehen.

Dazu bereitgestellt als Zugmaschine wurde ein Kettenfahrzeug, ein Panzerspähwagen. Peppi, der mit ein paar anderen Buben die Aktion verfolgte, erinnerte sich, dass das Fahrzeug trotz Aufwand aller Kraft die schwere Fracht nicht von der Stelle brachte, weil seine Ketten einfach durchdrehten. Zu tief nämlich waren inzwischen die Räder der Lafette unter der Last des Geschützes in den weichen Wiesengrund gesunken. Um die Bodenhaftung des Kettenfahrzeuges zu verbessern, belud man es mit Munitionskisten. Und siehe da, das half, und die Lafette samt Kanone ward auf die Straße bugsiert.

Einige der Buben, die das Werk aufmerksam verfolgt hatten, kletterten jetzt unbekümmert auf die Zugmaschine, Peppi wählte nach seiner Erinnerung als Sitz das rechte Schutzblech vorne. Bald rollte das Gespann zunächst gemächlich die steile Lenkenstraße abwärts ins Herz der Kolonie hinein (siehe Foto aus den 1930er Jahren). Doch bereits in Höhe der Konditorei Fibiger - das Gefälle erreichte hier den höchsten Grad - bemerkte Peppi, "dass etwas nicht in Ordnung war, dass wir immer schneller wurden". Es sah ganz so aus, als hielten die Bremsen der Zugmaschine dem Druck der angehängten Last nicht stand.

In der Rechtskurve dann geschah es: Unter dem Einfluss der Fliehkraft neigte die Kanone sich nach links, kippte um und stürzte mitsamt dem Kanonier auf die Fahrbahn. Im Gefolge davon legte sich die Zugmaschine gleichfalls auf die Seite, und der blinde Passagier auf dem Schutzblech schleuderte von seinem ungesicherten Sitz herunter. In welch heikle Situation er da geriet, erlebte Peppi damals so: "Ich lag auf dem Bauch, auf meinem Rücken lag ein Blech und auf das musste etwas Schweres gefallen sein, denn ich konnte mich nicht rühren". Es war ein gefährliches Gewicht, das den Buben niederdrückte, eine Granate nämlich aus einer der Munitionskisten, die dem Panzerspähwagen als Ballast aufgebürdet worden waren. Erst nachdem jemand das schwere Objekt mitsamt dem Blech vom Körper des Abgestürzten entfernt hatte, konnte Peppi sich wieder aufrichten. Völlig unbeschädigt, wie sich schnell herausstellte. Ein Glück für ihn und ganz Liebauthal war, dass weder die Granate noch ein anderes Geschoss bei der Havarie explodierten.

Schon am folgenden Tag waren alle Unfallspuren beseitigt. Wenig später rollten amerikanische Tanks, begleitet von Infanteristen, in Liebauthal ein. Aus mehreren Fenstern der Mietskasernen hingen weiße Betttücher als Zeichen der Unterwerfung und dass man die Hoffnung auf den immer wieder versprochenen "Endsieg" ein für allemal aufgegeben hat. Für viele Liebauthaler aber war der Einzug der Amerikaner und damit das Kriegsende durchaus ein freudiges Ereignis. Was ihnen knapp ein Jahr später blühte, das freilich ahnten sie zu dieser Zeit noch nicht.

"Ein ganzes Auto voller Neger"

Die Fabrikkolonie Liebauthal, obwohl bis zur erzwungenen "Aussiedlung" der deutschsprachigen Bevölkerung nach dem 2. Weltkrieg von rund tausend Menschen bewohnt, besaß keine eigene Kirche. Die Christen meines Heimatortes - zumeist Katholiken und die wenigen Protestanten – waren zur Taufe ihrer Kinder, zum Heiraten oder zu kirchlichen Bestattungen auf das benachbarte Königsberg angewiesen. Für die Katholiken stand (und steht noch immer) auf einem Bergvorsprung die Pfarrkirche aus dem 18. Jahrhundert mit zwei Türmen, gekrönt von zwiebelförmigen Turmhelmen. Architektonische Merkmale außen und die Ornamentik des Innenraumes weisen sie als Barockbau aus. Das Hirtenamt lag und liegt auch heute noch in Händen des in Prag beheimateten Ordens der Kreuzherren mit dem roten Stern.

Jedesmal, wenn ich als Kind an die Pforte dieser Kirche kam, erhielt ich ein Geldstück in die Hand gedrückt. Das durfte ich dann nach Eintritt in den Schlitz eines Kästchens stecken, auf dem sich eine Statue befand, ein kleiner Negerbub. Sobald die Münze in den Kasten fiel, nickte das Köpfchen des Buben zum Dank für meine Gabe, eine mechanische Geste, die sich tiefer in mein Gedächtnis eingeprägt hat als die ganze barocke Pracht der Kirche selbst. Der freundliche Nickneger wird, als ich mit ihm Bekanntschaft machte, vermutlich der einzige Vertreter des afrikanischen Menschentyps weit und breit gewesen sein. Zu seinem Glück bestand er nicht aus Fleisch und Blut. Denn nach dem sogenannten "Anschluss" der deutschsprachig besiedelten Gebiete der Tschechoslowakei an Hitlerdeutschland galt auch bei uns im Egerland das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" - besser bekannt als "Nürnberger Rassengesetze". Auf das Alltagsleben angewandt, bedeuteten diese berüchtigten Nazi-Regeln: Nur wer an Hand von Eintragungen in Kirchenbüchern nachweisen konnte, von "arischen" Ahnen abzustammen, besaß uneingeschränkt Lebensrecht. Die "Rassengesetze" waren zwar vornehmlich auf Angehörige der jüdischen Religion gemünzt, schlossen aber ganz automatisch alle Menschen ein, die unter Rassenfanatikern als nichtarisch galten.

Indes, der niedliche, aber eben doch ganz und gar unarische Krauskopf auf dem Opferstock überstand, soweit ich mich erinnere, unbehelligt die Episode des Germanenwahns. Für deren unrühmliches Ende sorgte in Westböhmen das 3. gepanzerte Kavallerie-Regiment unter seinem Kommandanten James H. Polk, die "Speerspitze" der Panzerarmee General Pattons. Und so waren unter den Panzerbesatzungen, die am Anfang Mai 1945 in Liebauthal einrollten womöglich auch Soldaten Polks (der am 18. Februar 1992 achzigjährig gestorben ist). Begleitet waren die Panzer von Fußtruppen der 1. Infanteriedivision, für die später bei Eger ein eindrucksvolles Denkmal entstand.

Bereits Tage vor diesem denkwürdigen Einmarsch der fremden Truppen erfüllte die Gemüter der Menschen eine Mischung aus Sehnsucht nach dem absehbaren Ende des Krieges und aus gespannter Erwartung dessen, was diesem Ende folgen würde. Zu dieser Gefühlsmixtur gesellte sich ein weiteres Element: blanke Neugier, nämlich Neugier auf die siegreichen Soldaten aus Übersee im allgemeinen, ja , und auf ihre schwarzen Kameraden im besonderen. Die Aussicht, demnächst einem Neger - Was heißt einem? Vielen! - ganz leibhaftig zu begegnen, erregte nicht nur uns Kinder. Sie war aber auch nicht ganz frei von einer unbestimmten Furcht.

So aufmerksam ich allerdings bereits bei der Eroberung unsrer Kolonie nach einem schwarzen Gesicht unter den ungewohnten US-Helmen Ausschau hielt (ich gehörte sogar zu denen, die dem heranrückenden Heer entgegengingen und auf der Höhe zwischen Liebauthal und Königsberg den allerersten Panzer erspähten), ich spürte keines auf. Ebensowenig bei den Soldaten, die in den Tagen darauf mit Jeeps und Funkgeräten strategisch wichtige Punkte in Beschlag genommen hatten und von uns Kindern umlagert wurden. Wo nur blieben sie, die sagenhaften dunkelhäutigen Amerikaner? Andere schienen da mehr vom Glück begünstigt als ich. Jene Nachbarin etwa, die eines Nachmittags aufgeregt vor unserem Haus herumlief und dabei lautstark verkündete, sie habe soeben "a gonz Auto vuler Necher" gesehen. Ja wo denn, wo denn, bedrängte man sie. Nun, gerade seien sie durch den Ort gefahren in Richtung Falkenau. Und diese Gelegenheit musste ausgerechnet ich verpassen!

Aber schließlich wurde auch ich fündig. Nur begegnete ich meinen ersten Negern nicht bloß von Ferne und flüchtig wie die Nachbarin, vielmehr ganz nah von Angesicht zu Angesicht. Und die Begegnung geschah nicht in Liebauthal sondern in der Kreisstadt Falkenau, wohin ich seinerzeit wiederholt als Besucher fuhr. Geschehen ist es um die Mittagszeit in einer schmalen Gasse an der Laderampe des "Amtshofes", wenige Schritte nur entfernt vom Marktplatz der Stadt (Eigenes Foto des Amtshofes, aufgenommen 1973). Auf der Gasse hatten sich Menschen versammelt, in Händen allerlei Geschirr als warteten sie auf eine öffentliche Speisung. In der Tat währte es nicht lange, da fuhr ein kleiner Militärlaster, ein "Dodge" (gesprochen Dodsch), an die Rampe, beladen mit einem großen Kessel, der mit einem Deckel verschlossen war. Aus dem Führerhaus sprangen zwei junge Burschen in US-Uniformen. Ihre Gesichter glänzten kohlschwarz, schwärzer als ich mir das vorher ausgemalt hatte. Dennoch empfand ich keinerlei Bedrohung oder Unbehagen. Wie hätten solcherlei Gefühle auch aufkommen können bei der Fröhlichkeit der zwei. Niemanden konnte es entgehen, dass Zielscheibe ihrer Neckereien die adretten deutschen Mädchen waren, die den Kesselinhalt, eine wohlriechende Nudelsuppe mit dicken Fleischbrocken, den hungrigen Falkenauern in die bereitgehaltenen Töpfe und Schüsseln löffelten.

Besonders heftig kicherten und gackerten die Mädchen an den Schöpfkellen (und das Publikum machte, wenn auch nicht ganz so offen, mit), sobald einer der Soldaten ihnen zurief: "Du mit mir slapen, du mit mir slapen". Ich konnte mir aus dieser wunderlichen Aufforderung keinen rechten Reim machen, staunte aber nicht schlecht, dass der schwarze Ami offenbar unsere Sprache beherrschte, wenngleich nur ein paar Brocken. Das Geplänkel zwischen den Uniformierten und den Mädchen dauerte an, bis der letzte Rest des Suppenkessels unter den Leuten war. Danach verschwanden die zwei Burschen wieder in ihrem Auto, die Gesättigten verließen ebenfalls die Gasse, und ich hatte damit zu tun, das Gequatsche der Amis zu verdauen. Es ging mir nicht in den Sinn, warum der Bursche mit dem Mädchen "slapen" wollte. Und weshalb die Mädchen derart albern reagierten.

Dabei verstieß der G. I. (sprich: dschi ai) mit seinen anzüglichen Wunschäußerungen eigentlich gegen eine Vorschrift. Denn die "army" untersagte damals noch ihren Soldaten mit einem "Fraternisierungsverbot" freundschaftliche und erst recht intimere Kontakte zur deutschen Bevölkerung. Aber was bedeuten jungen, unbekümmerten Soldaten derart weltfremde Vorschriften! Indem die beiden schwarzen Schwerenöter sie einfach ignorierten, haben sie - für ein paar Augenblicke wenigstens - Frohsinn verbreitet in einer Zeit, da die Menschen ansonsten kaum zu lachen hatten. Naja und ich, ich wusste endlich wie richtige Neger aussahen. Ein bissel anders schon als der schwarze Nicker in unserer Kirche.

Montag, 8. Dezember 2008

Liebauthaler Buben machen eine Zechenexkursion

Die Textilfabrik von Liebauthal im Egerland samt der drei Reihen Mietskasernen für die Beschäftigten sowie weitere Bauwerke waren vor der „Arisierung“ durch Hitler-Deutschland Eigentum der Noe Stroß Aktiengesellschaft Liebauthal und Weißwasser. Ihre Energie bezog die Fabrik in Form von Braunkohle aus einem eigenen Bergwerk, der Ernst-Ludmilla-Zeche zwischen Liebauthal und dem benachbarten Königsberg an der Eger. Vor Inbetriebnahme einer Drahtseilbahn um das Jahr 1910 transportierte man die Kohle mit Pferdefuhrwerken, danach mit den Hunten der Seilbahn, die auf gleichem Wege die nach der Verbrennung anfallende Schlacke zurück zum Bergwerk brachten, wo sie auf einer Halde landete (das Bild von etwa 1937 zeigt die Einfahrt eines Huntes in die Fabrik, Bildgeberin Frau Maria Schricker, Donaustauf).

Wie jedermann in Liebauthal die Drahtseilbahn "d' Luftbon" (Luftbahn) nannte, so die Zeche nur "d' Oram", also Abraum. Diese Benennung mochte von den Abraumhalden herrühren, die sich in der Nähe des Ludmilla-Schachtes auftürmten. Der Schacht ist seit langem schon stillgelegt, ihr Förderturm abgebaut, und auf den kaum noch erkennbaren Abraumhalden wachsen Bäume.

Hielt man sich während meiner Kindheit, also in den 1940-er Jahren, in der Nähe der Luftbahn auf oder wohnte man, wie ich, direkt daneben, sah man jeden Werktag so gegen die Mittagszeit im Rahmen eines der Luftbahnhunte, der über die Höhe zurück ins Bergwerk schaukelte, eine Tasche. Eingeweihte, zu denen wahrscheinlich alle Bewohner der Kolonie gehörten, wussten, dass die Tasche das Mittagessen für Herrn Treiber enthielt. Karl Treiber, ein Königsberger, der aber mit seiner großen Familie in Liebauthal wohnte, arbeitete auf der Oram als "Luftbonoa(n)schuckerer", was ins Hochdeutsche etwa mit Luftbahnanschieber übersetzt werden könnte.

Es muss jemand wohl im Schatten des Transportsystems Luftbahn geboren sein, um auf Anhieb zu verstehen, welchem Beruf Herr Treiber auf der Ludmilla-Zeche nachging. Ich will es Unkundigen kurz darlegen: Luftbon oa(n)schuckern war die verantwortungsvolle Tätigkeit, mit der die eisernen Hunte, sobald sie auf dem Bergwerk mit Braunkohle beladen oder in der Fabrik von ihrer Fracht befreit waren, wieder auf die Reise geschickt wurden. Um die heranschaukelnden Wagen der Seilbahn am jeweiligen Ziel zum Stillstand zu bringen, mussten sie vom ständig laufenden Zugseil, das zwischen zwei Eisenbacken verklemmt war, abgekoppelt werden. Das Umgekehrte, nämlich die Ankoppelung, geschah, indem das Zugseil mittels eines kurzen, massiven Hebels, auch Hahn oder „Hon(e)“ genannt, wieder zwischen den Eisenbacken verklemmt wurde. Und eben das war die Aufgabe des Luftbahnanschiebers. Um die erforderliche Hebelarbeit zu erleichtern, benutzte er dabei einen Eisenstab als zweiten Hebel. Verantwortungsvoll war die Tätigkeit des Anschuckerers, weil Nachlässigkeit schlimme Folgen haben konnte. Denn löste sich auf den abschüssigen Strecken zu uns ins Tal oder zum Bergwerk ein Hunt von seinem Führungsdraht, riss er unweigerlich weitere Hunte mit, alle zusammen sprangen schließlich aus dem Rollseil und stürzten ab. Allein während meiner kurzen Kindheit von 1939 bis 1946 in Liebauthal ereigneten sich mehrere solcher Luftbahnunfälle, wenigstens einen davon erlebte ich als Ohren- und Augenzeuge direkt mit. Das Desaster begann jedesmal mit einem singenden, schnell greller werdenden Ton, der die gewöhnlichen Geräusche des Tales überlagerte. Diesen Ton erzeugten die Rollen des Hundes, sobald sich das Gefährt von seinem Führungsseil gelöst hatte und mit zunehmender Geschwindigkeit abwärts raste. Es brauchte dann nur Sekunden, bis das Getöse kollidierender und abstürzender Hunte einsetzte, gefolgt von einer geradezu unheimlichen Stille. Nicht von derlei dramatischen Ereignissen, an denen die Menschen der Kolonie immer lebhaft Anteil nahmen, will ich hier weiter berichten. Vielmehr soll es im Folgenden um einen denkwürdigen Ausflug eines Häufleins Liebauthaler Vorschul-Buben an den Arbeitsplatz des Luftbahnanschiebers Karl Treiber gehen.

Den Anstoß zu diesem Unterfangen gaben vermutlich zwei Umstände. Zum einen war das Umfeld der Luftbahn unser liebster Ort zum Spielen, der jeden Tag zu neuen, zuweilen sogar gefährlichen Abenteuern lockte. Hinzu kam die Kenntnis davon, dass Erwin, einer aus unsrer Clique, Herrn Treibers Sohn war. Wer anders als Erwin, mochten wir uns gesagt haben, konnte uns Zugang in das geheimnisvolle Innere der Schachtanlage verschaffen. Einfach aber war es keineswegs, den Treiber Erwin zu einem Besuch der Arbeitsstätte seines Vaters zu bewegen. Entsprechende Wünsche von uns wehrte er mit immer dem gleichen Einwand ab: Der "Trojan" würde es bestimmt nicht leiden, es also nicht zulassen. Weiteren Andeutungen Erwins zufolge musste dieser Trojan ein großes Tier, vielleicht der Zechenchef selbst sein, auf jeden Fall ein grober Mensch, mit dem nicht gut Kirschen essen ist. Weil ihn niemand von uns kannte, waren Erwins abschreckende Schilderungen kaum zu widerlegen.

Entgegen allen Bedenken und Warnungen brachen wir Buben einschließlich Erwin eines Tages trotzdem auf zur "Oram". Vor machten wir uns nichts: Die Zeche würde nur mit Erlaubnis der Leitung zu betreten sein. Folglich versuchten wir zunächst das Gebäude auszumachen, in dem wir den gefürchteten Herrn Trojan vermuteten. Das dort, ein (nach meiner Erinnerung) niedriger Ziegelbau unterhalb des Förderturmes, könnte es wohl sein, entschieden wir, und klopften oder klingelten an seiner Tür.

Auf der Schwelle erschien eine Frau. Deutlich verwirrt angesichts der Bubenschar, fragte sie nach unseren Wünschen. Den Herrn Treiber wollten wir besuchen, und auf Erwin weisend fügten wir hinzu: "Des is d(e) Data vo dean dou". Jetzt lachte die Frau in der Tür: "Sua, zun Herrn Treiber wollts, no, doa kummts no mol eine".

Es war offenbar das Zechenbüro, in das wir gebeten wurden und hier warten sollten. Die Dame verschwand in einem angrenzenden Zimmer, erschien aber kurz danach wieder und forderte uns erneut auf, ihr zu folgen. Sie führte uns geradewegs hinüber in eine Halle, in derem Halbdunkel wir auch sogleich Herrn Treiber bei der Arbeit erblickten, beim Luftbahnanschieben eben, sein Gesicht und seine Kleidung vom Kohlenstaub geschwärzt. Anwesend war außerdem ein russischer Kriegsgefangener, den wir gleichfalls alle von Liebauthal her kannten. Dessen Aufgabe bestand darin, die leeren, von ihrem Führungsseil gelösten Hunte unter einen Holzschacht zu platzieren, aus dem nach Betätigung eines Hebels von oben her die Kohle in den Kasten des Huntes rutschte. Im gleichen Rhythmus wie der Russe den gefüllten Wagen dann an Herrn Treiber weiter schubste und der ihn, nach Befestigung am Führungsdraht, auf die Reise nach Liebauthal schickte, fuhren die leeren Wagen in die Halle ein. Ein spannendes Zusammenspiel von Mensch und Technik, an dem ich mich kaum satt sehen konnte.

Ob freilich Erwins Vater von unserer „Betriebsbesichtigung“ erbaut war, bezweifle ich noch heute. Überzeugt hingegen bin ich, dass niemals vorher ähnlich aufmerksame Gäste die „Ernst-Ludmilla-Zeche“ besucht haben. Den gefürchteten "Trojan" allerdings bekamen wir in keiner Phase unseres Besuches zu Gesicht. Oder hat uns Erwin etwa ein verzerrtes Bild von ihm gezeichnet und Herr Trojan war in Wirklichkeit doch besser als sein Ruf? Und überhaupt: Hat es den Trojan eigentlich wirklich gegeben?

Nachtrag:

Eduard Trojan, der unweit der Zeche in Königsberg wohnte, war zur Zeit unseres Besuches der Ludmilla-Zeche Schichtmeister (Rechnungsführer). Wem wir Buben den freien Zugang ins Innere der Zechenanlage verdankten, bleibt allerdings ein Geheimnis.

Siegfried Träger

Freitag, 5. Dezember 2008

Von meinem unerkannten Urgroßvater

Sechs Jahre alt war ich, als der Krieg, der 2. Weltkrieg, zu Ende ging. Diese ersten Jahre meines Lebens verbrachte ich in meinem Geburtsort Liebauthal, einer Fabrikkolonie in einem engen Seitental des Flusses Eger in Westböhmen (Foto von Adolf Scherbaum aus dem Jahr 1930). Im Tal floss, aus dem Kaiserwald-Gebirge kommend, der Liebaubach, Namensgeber der Kolonie mit ihren damals rund 1000 Bewohnern. Meine frühen Jahre waren voller Abwechslung und Abenteuer und geprägt vom Rhythmus der großen Textilfabrik und von der Seilbahn, die von Montag bis Samstag Braunkohle aus der jenseits des Tales gelegenen fabrikeigenen Ernst-Ludmilla-Zeche heranschaffte, damit der Schornstein des Kesselhauses rauchte. Vom Eingang in das Werk trennte die Mietskaserne, in der sich unsere kleine Wohnung befand, nur die Durchgangsstraße von der nahen Kleinstadt Königsberg an der Eger in die Kreisstadt Falkenau. Und zur Seilbahn, die man Luftbahn nannte, war es auch nur einen Steinwurf weit. Überhaupt: alle Wege waren kurz, wenngleich zuweilen steil verlaufend, ob zu den beiden Fleischereien, den beiden Lebensmittelgeschäften, der Bäckerei, der Gärtnerei, der Milchhandlung, der Konditorei oder in den Kindergarten, obgleich der sich, von unserem Wohnhaus am Ortseingang aus gesehen, im hintersten Teil der Kolonie, im Gebäude der sogenannten Stallung befand. Die Stallung - sie existiert schon längst nicht mehr - wirkte wie ein Sperrriegel zwischen der Kolonie und dem bachaufwärt immer enger werdenen Tal, dessen hohen Hänge dicht bewaldet waren. Doch meine Kindheit in dieser lebhaften Tallandschaft währte nur kurz. Nicht einmal die Schule durfte ich mehr besuchen, dabei war ich doch 1945 "schulpflichtig" geworden. Das Ende des Krieges am 8. Mai 1945 mit der totalen Niederlage Hitler-Deutschlands, das sich 1938 durch politische Erpressung große Teile der Tschechoslowakei einverleibt hatte, brachte für Liebauthal wie für viele andere Orte mit deutschsprachiger Bevölkerung tiefgreifende Veränderungen, die ihren Höhepunkt rund ein Jahr später mit unserer erzwungenen "Ausweisung" nach Deutschland fanden. Von Liebauthal und den mir vertrauten Orten seiner Nachbarschaft blieb mir fortan nur eine niemals schweigende Sehnsucht. Viele Jahrzehnte lebte ich damit, ehe ich mich daran machte, mein Gedächtnis nach Lebenszeichen jener Kindheitsjahre zu befragen und schließlich einige davon niederzuschreiben. Wie die Erinnerung an einen Menschen, der, ohne dass ich davon wusste, mein Urgroßvater war.

Wenige Tage vor Ostern 1946 waren wir an der Reihe: Wir mussten Liebauthal, die Fabrikkolonie im Westen Böhmens zwischen Egertal und Kaiserwald, wo ich erst wenige Jahre vorher zur Welt gekommen war, verlassen. Dass wir „ausgewiesen“ würden, davon war in unseren vier Wänden schon seit geraumer Zeit die Rede. Um für die mageren Zeiten danach gewappnet zu sein, hatte ich mir bereits Wochen vorher den Zucker im morgendlichen Malzkaffee versagt (woraus schließlich eine lebenslange Abneigung gegen süßen Kaffee entstand). Es war die einzige Vorsorge, die ich für das in Aussicht stehende neue Lebensabenteuer traf. Im Reisen war ich, trotz meines Kindesalters, nicht ganz unerfahren. Was mir den Verlust des heimatlichen Tales außerdem erleichterte war die Hoffnung, dort, wo wir auch immer landen würden, endlich in die Schule zu kommen. Obgleich längst schulpflichtig, war mir der Schulbesuch zu meiner großen Enttäuschung von den Tschechen verwehrt worden, mir fast persönlich übrigens. Aber das ist eine andere Geschichte.

Dass die „Ausweisung“, wie der schönfärberische Begriff für unsere Vertreibung lautete, ein Abschied für immer vom Ort meiner Kindheit sein würde, daran ließen die Gespräche der mir nahestehenden Erwachsenen keinen Zweifel, ebensowenig ihre Handlungen. So wurde schon Wochen vor dem Abtransport die bewegliche Habe danach eingeteilt, was man für die Reise ins Ungewisse unbedingt mitnehmen wollte und was man, wenn auch schweren Herzens, zurücklassen musste. Wer den Mut dazu besaß, wählte einen dritten Weg: Besitz, den man für verzichtbar hielt, ihn aber nicht in die Hände der neuen Herren, den Tschechen, fallen lassen wollte, einfach zu zerstören oder ihn an Zurückbleibende zu verschenken. Besonders Gewiefte wählten eine vierte Möglichkeit, die mir damals freilich nicht bekannt war: Sie schafften vorsorglich ihr wertvollstes Hab und Gut heimlich und unter Gefahren über die Grenze nach Bayern.

Meine Großmutter, die im sogenannten "Hufeisen" zwischen dem "Herrenhaus" und der "Stallung" wohnte, stieß beim Sortieren damals gleich auf zwei zur Mitnahme ungeeignete Gegenstände, einer davon war eine Mandoline, der andere eine lange Tabakspfeife mit einem bunt bemalten Porzellankopf und einer Kordel um den Stiel. Nach kurzer Beratung mit ihrer Tochter (meiner Mutter), der die Mandoline eigentlich gehörte, zertrümmerte die Großmutter das schöne Instrument unbarmherzig, ja unbarmherzig, so empfand ich es auch wirklich, an einem Balken des Dachbodens. Danach reichte sie mir die Pfeife und sagte: "Bring die dem alten Sabransky, der freut sich bestimmt darüber".

Diesen Auftrag übernahm ich gerne, denn "an olten Sawranski" (Foto aus seinen letzten Lebensjahren), wie er immer nur genannt wurde, kannte ich seit langem schon. Er bewohnte ein Mansardenzimmer in einem der Privathäuser am oberen Rand der Kolonie. Alt mußte er wirklich schon gewesen sein, das verrieten seine kurz geschorenen weißen Haare und der zahnlose Mund, der sich tief in das Gesicht eingrub und so das Kinn stark hervorspringen ließ. Gesichter dieses Zuschnitts findet man heute, im Zeitalter der Vollversorgung mit Zahnprothesen, kaum mehr. Besuchte ich den stillen Greis, empfing er mich stets in einem imposanten Sessel mit hoher Rückenlehne und Armstützen. Ein kleiner Kanonenofen, von dem ein langes Rohr ausging, erwärmte zur Winterzeit das Zimmer angenehm.

Wer aber war der "alte Sabransky" eigentlich und was bewog mich überhaupt zu gelegentlichen Besuchen bei ihm? Der kleine Bub hat diese Fragen damals weder sich noch anderen gestellt. Wozu auch. Der "alte Sabransky" war halt der alte Sabransky. Mit gleicher Selbstverständlichkeit mochte ich auch mit der Pfeife zu ihm gelaufen sein, als man mich dazu aufforderte. Welche Bande mich mit dem alten Mann tatsächlich verknüpften, also gewissermaßen den Urgrund unserer Beziehung, entdeckte ich erst viele Jahre später.

Den Weg wies mir ein "Geburts- und Taufschein", den ich unter Familienpapieren fand, die 1941 vom Pfarramt Königsberg a. d. Eger zwecks "Ariernachweis" anhand der dortigen Taufmatrikel angefertigt worden waren. Diesen obskuren "Nachweis" mussten damals nicht nur die „Reichsdeutschen“ sondern auch die Menschen der von Hitler annektierten Gebiete, also auch wir Egerländer, beibringen - als Beleg dafür, dass man keine jüdischen Vorfahren hat. Jener Schein nun fiel mir dadurch auf, dass er auf den Namen Johann Georg Sabransky, geboren und getauft zu Königsberg a./E. 280, lautete. Wie hätte ich da nicht stutzig werden sollen! Das bewirkte nicht allein der Name, der sogleich Erinnerungen an meine Kindheitsbekanntschaft wachrief. Noch verwunderlicher war, dass keine der in den weiteren Papieren als meine Vorfahren kenntlichen Personen mit Johann Georg Sabransky verwandtschaftlich verknüpft zu sein schienen. Was also hatte er in meinem "Stammbaum" verloren?

Das Rätsel war schnell gelöst. Auf die Frage an meine Familie, ob es sich bei dem Sabransky aus dem "Ariernachweis" etwa um den "alten Sabransky" handele, hieß es: Ja, natürlich. Er sei doch der Vater meines bereits im 1. Weltkrieg gefallenen Großvaters Anton Träger gewesen, oder anders ausgedrückt: der "alte Sabransky" war mein Urgroßvater, einer der vier Urgroßväter, die jedermann zustehen. Dass dieser Umstand aus keinem der anderen Familienpapiere herauszulesen war, hatte freilich seinen Grund: Johann Georg Sabransky, Georg genannt, hatte Anna Träger, die Frau, mit der er als 17-Jähriger das Kind Anton zeugte (und die zwölf Jahre älter war als er), nicht geheiratet, folglich dem Kind, das später mein Großvater wurde, nicht seinen Namen geben können. Wenn er trotzdem - wenn auch nicht klar als Vater ausgewiesen - in meiner „Ahnenreihe“ auftritt, so ist das keineswegs selbstverständlich und wohl eher eine Ausnahme. Denn Väter wie er wurden gewöhnlich offiziell als nichtexistent betrachtet, abzulesen daran, dass in Geburtsmatrikeln und -scheinen nichtehelicher Kinder in der Regel allein die Mutter genannt wird, solche Kinder also nur der Mutterlinie zugeordnet werden.

Ungeachtet dessen (oder vielleicht gerade deswegen) muss Johann Georg Sabransky sich irgendwann einmal der Kirchenbehörde als Vater seines illegitimen Sohnes Anton geoffenbart haben. Und dass er diese Vaterschaft nicht leugnete, drückte sich auch darin aus, dass er den Kindern, die sein Sohn später in seiner Ehe mit der Anna Sommer aus Schaben zeugte, durchaus zugetan war. Einem davon, meinem Onkel Rudolf, verhalf er, wie mir dieser erzählte, in schlechten Zeiten zu einer Arbeitsstelle in der Liebauthaler Textilfabrik, wo er selbst als Webmeister tätig war; einem anderen, meinem Vater, beehrte er sogar als Hochzeitsgast. Damals hatte er längst eine eigene Familie mit Töchtern und Enkelkindern.

Alle Welt, die kleine Liebauthaler wie die behördliche, wusste also offenbar, dass der alte Sabransky mein Urgroßvater war. Und alle verschwiegen sie es mir! Sogar er selbst. Dabei hätte ich sehr wohl verstanden, was ein Urgroßvater ist, redete man in der Familie doch oft genug von einem, der zu jener Zeit an ganz anderem Ort gestorben war. Der freilich hatte, im Gegensatz zum Sünder Sabransky, die zuständige Urgroßmutter zum Traualter geführt. Aber, rufe ich Jahrzehnte später den Vertuschern zu, Urgroßvater ist Urgroßvater. Wir Nachkommen haben ein Recht auch auf unsere unordentlichen Vorfahren.


Das Schicksal meines Urgroßvaters Sabransky nach der Pfeifenübergabe war mir bis vor kurzem nur ganz ungenau bekannt. Aus den inzwischen vorliegenden Vertreibungslisten für den Kreis Falkenau geht hervor, dass er zusammen mit seiner 2. Ehefrau Theresia Sabransky, geb. Werner (die erste Ehefrau Franziska Erben aus Frankenhammer bei Graslitz war bereits 1922 gestorben, ihr Grab mit Stein befindet sich noch auf dem Friedhof von Königsberg an der Eger) am 8. April 1946 mit dem 3. Transport von Falkenau aus in die amerikanische Besatzungszone abgehen sollte. Und erst 60 Jahre nach der letzten Begegnung mit ihm erfuhr ich, sein Urenkel, durch zwei seiner Enkelinnen, Sieglinde Breuer, geb. Treiber, und Gertrud Heinrichs, geb. Treiber, endlich, wann, wo und woran er gestorben ist: 1951 mit 86 Jahren in Wolmirsleben südlich von Magdeburg nach einem Oberschenkelhalsbruch. 1947 hatte ihn seine Tochter Anna Treiber, geb. Sabransky, aus einem Altersheim in Alzenau bei Aschaffenburg nach Wolmirsleben bei Magdeburg, dem Vertreibungsort der Familie Treiber, geholt.

Und am Ostersamstag 2006 besuchte ich zusammen mit den beiden Schwestern und ihrem Bruder Erwin den Friedhof, auf dem Georg Sabransky beerdigt wurde. Sein Grab ist längst eingeebnet, die Stelle seiner Grablegung aber konnten mir die Geschwister noch zeigen. Die übrigens bis dahin keine Ahnung von dem "Vorleben" ihres Großvaters hatten, also auch nichts von ihrer "Verwandtschaft" zu mir.

Ergänzend sei noch hinzugefügt, dass Georg Sabransky bereits 1892 als Webmeister in die Textilfabrik Ginsberg & Stroß, der späteren Noe Stroß A.-G., eintrat, 1899 Franziska Erben aus Frankenhammer bei Graslitz, ebenfalls eine Beschäftigte der Fabrik, heiratete und mit ihr drei Kinder hatte, die bereits erwähnte Anna, die 1918 an der damals grassierenden Spanischen Grippe verstorbene Marie und einen Sohn namens Josef, über den es aber keinerlei Nachrichten gibt.

Siegfried Träger