Freitag, 5. Dezember 2008

Von meinem unerkannten Urgroßvater

Sechs Jahre alt war ich, als der Krieg, der 2. Weltkrieg, zu Ende ging. Diese ersten Jahre meines Lebens verbrachte ich in meinem Geburtsort Liebauthal, einer Fabrikkolonie in einem engen Seitental des Flusses Eger in Westböhmen (Foto von Adolf Scherbaum aus dem Jahr 1930). Im Tal floss, aus dem Kaiserwald-Gebirge kommend, der Liebaubach, Namensgeber der Kolonie mit ihren damals rund 1000 Bewohnern. Meine frühen Jahre waren voller Abwechslung und Abenteuer und geprägt vom Rhythmus der großen Textilfabrik und von der Seilbahn, die von Montag bis Samstag Braunkohle aus der jenseits des Tales gelegenen fabrikeigenen Ernst-Ludmilla-Zeche heranschaffte, damit der Schornstein des Kesselhauses rauchte. Vom Eingang in das Werk trennte die Mietskaserne, in der sich unsere kleine Wohnung befand, nur die Durchgangsstraße von der nahen Kleinstadt Königsberg an der Eger in die Kreisstadt Falkenau. Und zur Seilbahn, die man Luftbahn nannte, war es auch nur einen Steinwurf weit. Überhaupt: alle Wege waren kurz, wenngleich zuweilen steil verlaufend, ob zu den beiden Fleischereien, den beiden Lebensmittelgeschäften, der Bäckerei, der Gärtnerei, der Milchhandlung, der Konditorei oder in den Kindergarten, obgleich der sich, von unserem Wohnhaus am Ortseingang aus gesehen, im hintersten Teil der Kolonie, im Gebäude der sogenannten Stallung befand. Die Stallung - sie existiert schon längst nicht mehr - wirkte wie ein Sperrriegel zwischen der Kolonie und dem bachaufwärt immer enger werdenen Tal, dessen hohen Hänge dicht bewaldet waren. Doch meine Kindheit in dieser lebhaften Tallandschaft währte nur kurz. Nicht einmal die Schule durfte ich mehr besuchen, dabei war ich doch 1945 "schulpflichtig" geworden. Das Ende des Krieges am 8. Mai 1945 mit der totalen Niederlage Hitler-Deutschlands, das sich 1938 durch politische Erpressung große Teile der Tschechoslowakei einverleibt hatte, brachte für Liebauthal wie für viele andere Orte mit deutschsprachiger Bevölkerung tiefgreifende Veränderungen, die ihren Höhepunkt rund ein Jahr später mit unserer erzwungenen "Ausweisung" nach Deutschland fanden. Von Liebauthal und den mir vertrauten Orten seiner Nachbarschaft blieb mir fortan nur eine niemals schweigende Sehnsucht. Viele Jahrzehnte lebte ich damit, ehe ich mich daran machte, mein Gedächtnis nach Lebenszeichen jener Kindheitsjahre zu befragen und schließlich einige davon niederzuschreiben. Wie die Erinnerung an einen Menschen, der, ohne dass ich davon wusste, mein Urgroßvater war.

Wenige Tage vor Ostern 1946 waren wir an der Reihe: Wir mussten Liebauthal, die Fabrikkolonie im Westen Böhmens zwischen Egertal und Kaiserwald, wo ich erst wenige Jahre vorher zur Welt gekommen war, verlassen. Dass wir „ausgewiesen“ würden, davon war in unseren vier Wänden schon seit geraumer Zeit die Rede. Um für die mageren Zeiten danach gewappnet zu sein, hatte ich mir bereits Wochen vorher den Zucker im morgendlichen Malzkaffee versagt (woraus schließlich eine lebenslange Abneigung gegen süßen Kaffee entstand). Es war die einzige Vorsorge, die ich für das in Aussicht stehende neue Lebensabenteuer traf. Im Reisen war ich, trotz meines Kindesalters, nicht ganz unerfahren. Was mir den Verlust des heimatlichen Tales außerdem erleichterte war die Hoffnung, dort, wo wir auch immer landen würden, endlich in die Schule zu kommen. Obgleich längst schulpflichtig, war mir der Schulbesuch zu meiner großen Enttäuschung von den Tschechen verwehrt worden, mir fast persönlich übrigens. Aber das ist eine andere Geschichte.

Dass die „Ausweisung“, wie der schönfärberische Begriff für unsere Vertreibung lautete, ein Abschied für immer vom Ort meiner Kindheit sein würde, daran ließen die Gespräche der mir nahestehenden Erwachsenen keinen Zweifel, ebensowenig ihre Handlungen. So wurde schon Wochen vor dem Abtransport die bewegliche Habe danach eingeteilt, was man für die Reise ins Ungewisse unbedingt mitnehmen wollte und was man, wenn auch schweren Herzens, zurücklassen musste. Wer den Mut dazu besaß, wählte einen dritten Weg: Besitz, den man für verzichtbar hielt, ihn aber nicht in die Hände der neuen Herren, den Tschechen, fallen lassen wollte, einfach zu zerstören oder ihn an Zurückbleibende zu verschenken. Besonders Gewiefte wählten eine vierte Möglichkeit, die mir damals freilich nicht bekannt war: Sie schafften vorsorglich ihr wertvollstes Hab und Gut heimlich und unter Gefahren über die Grenze nach Bayern.

Meine Großmutter, die im sogenannten "Hufeisen" zwischen dem "Herrenhaus" und der "Stallung" wohnte, stieß beim Sortieren damals gleich auf zwei zur Mitnahme ungeeignete Gegenstände, einer davon war eine Mandoline, der andere eine lange Tabakspfeife mit einem bunt bemalten Porzellankopf und einer Kordel um den Stiel. Nach kurzer Beratung mit ihrer Tochter (meiner Mutter), der die Mandoline eigentlich gehörte, zertrümmerte die Großmutter das schöne Instrument unbarmherzig, ja unbarmherzig, so empfand ich es auch wirklich, an einem Balken des Dachbodens. Danach reichte sie mir die Pfeife und sagte: "Bring die dem alten Sabransky, der freut sich bestimmt darüber".

Diesen Auftrag übernahm ich gerne, denn "an olten Sawranski" (Foto aus seinen letzten Lebensjahren), wie er immer nur genannt wurde, kannte ich seit langem schon. Er bewohnte ein Mansardenzimmer in einem der Privathäuser am oberen Rand der Kolonie. Alt mußte er wirklich schon gewesen sein, das verrieten seine kurz geschorenen weißen Haare und der zahnlose Mund, der sich tief in das Gesicht eingrub und so das Kinn stark hervorspringen ließ. Gesichter dieses Zuschnitts findet man heute, im Zeitalter der Vollversorgung mit Zahnprothesen, kaum mehr. Besuchte ich den stillen Greis, empfing er mich stets in einem imposanten Sessel mit hoher Rückenlehne und Armstützen. Ein kleiner Kanonenofen, von dem ein langes Rohr ausging, erwärmte zur Winterzeit das Zimmer angenehm.

Wer aber war der "alte Sabransky" eigentlich und was bewog mich überhaupt zu gelegentlichen Besuchen bei ihm? Der kleine Bub hat diese Fragen damals weder sich noch anderen gestellt. Wozu auch. Der "alte Sabransky" war halt der alte Sabransky. Mit gleicher Selbstverständlichkeit mochte ich auch mit der Pfeife zu ihm gelaufen sein, als man mich dazu aufforderte. Welche Bande mich mit dem alten Mann tatsächlich verknüpften, also gewissermaßen den Urgrund unserer Beziehung, entdeckte ich erst viele Jahre später.

Den Weg wies mir ein "Geburts- und Taufschein", den ich unter Familienpapieren fand, die 1941 vom Pfarramt Königsberg a. d. Eger zwecks "Ariernachweis" anhand der dortigen Taufmatrikel angefertigt worden waren. Diesen obskuren "Nachweis" mussten damals nicht nur die „Reichsdeutschen“ sondern auch die Menschen der von Hitler annektierten Gebiete, also auch wir Egerländer, beibringen - als Beleg dafür, dass man keine jüdischen Vorfahren hat. Jener Schein nun fiel mir dadurch auf, dass er auf den Namen Johann Georg Sabransky, geboren und getauft zu Königsberg a./E. 280, lautete. Wie hätte ich da nicht stutzig werden sollen! Das bewirkte nicht allein der Name, der sogleich Erinnerungen an meine Kindheitsbekanntschaft wachrief. Noch verwunderlicher war, dass keine der in den weiteren Papieren als meine Vorfahren kenntlichen Personen mit Johann Georg Sabransky verwandtschaftlich verknüpft zu sein schienen. Was also hatte er in meinem "Stammbaum" verloren?

Das Rätsel war schnell gelöst. Auf die Frage an meine Familie, ob es sich bei dem Sabransky aus dem "Ariernachweis" etwa um den "alten Sabransky" handele, hieß es: Ja, natürlich. Er sei doch der Vater meines bereits im 1. Weltkrieg gefallenen Großvaters Anton Träger gewesen, oder anders ausgedrückt: der "alte Sabransky" war mein Urgroßvater, einer der vier Urgroßväter, die jedermann zustehen. Dass dieser Umstand aus keinem der anderen Familienpapiere herauszulesen war, hatte freilich seinen Grund: Johann Georg Sabransky, Georg genannt, hatte Anna Träger, die Frau, mit der er als 17-Jähriger das Kind Anton zeugte (und die zwölf Jahre älter war als er), nicht geheiratet, folglich dem Kind, das später mein Großvater wurde, nicht seinen Namen geben können. Wenn er trotzdem - wenn auch nicht klar als Vater ausgewiesen - in meiner „Ahnenreihe“ auftritt, so ist das keineswegs selbstverständlich und wohl eher eine Ausnahme. Denn Väter wie er wurden gewöhnlich offiziell als nichtexistent betrachtet, abzulesen daran, dass in Geburtsmatrikeln und -scheinen nichtehelicher Kinder in der Regel allein die Mutter genannt wird, solche Kinder also nur der Mutterlinie zugeordnet werden.

Ungeachtet dessen (oder vielleicht gerade deswegen) muss Johann Georg Sabransky sich irgendwann einmal der Kirchenbehörde als Vater seines illegitimen Sohnes Anton geoffenbart haben. Und dass er diese Vaterschaft nicht leugnete, drückte sich auch darin aus, dass er den Kindern, die sein Sohn später in seiner Ehe mit der Anna Sommer aus Schaben zeugte, durchaus zugetan war. Einem davon, meinem Onkel Rudolf, verhalf er, wie mir dieser erzählte, in schlechten Zeiten zu einer Arbeitsstelle in der Liebauthaler Textilfabrik, wo er selbst als Webmeister tätig war; einem anderen, meinem Vater, beehrte er sogar als Hochzeitsgast. Damals hatte er längst eine eigene Familie mit Töchtern und Enkelkindern.

Alle Welt, die kleine Liebauthaler wie die behördliche, wusste also offenbar, dass der alte Sabransky mein Urgroßvater war. Und alle verschwiegen sie es mir! Sogar er selbst. Dabei hätte ich sehr wohl verstanden, was ein Urgroßvater ist, redete man in der Familie doch oft genug von einem, der zu jener Zeit an ganz anderem Ort gestorben war. Der freilich hatte, im Gegensatz zum Sünder Sabransky, die zuständige Urgroßmutter zum Traualter geführt. Aber, rufe ich Jahrzehnte später den Vertuschern zu, Urgroßvater ist Urgroßvater. Wir Nachkommen haben ein Recht auch auf unsere unordentlichen Vorfahren.


Das Schicksal meines Urgroßvaters Sabransky nach der Pfeifenübergabe war mir bis vor kurzem nur ganz ungenau bekannt. Aus den inzwischen vorliegenden Vertreibungslisten für den Kreis Falkenau geht hervor, dass er zusammen mit seiner 2. Ehefrau Theresia Sabransky, geb. Werner (die erste Ehefrau Franziska Erben aus Frankenhammer bei Graslitz war bereits 1922 gestorben, ihr Grab mit Stein befindet sich noch auf dem Friedhof von Königsberg an der Eger) am 8. April 1946 mit dem 3. Transport von Falkenau aus in die amerikanische Besatzungszone abgehen sollte. Und erst 60 Jahre nach der letzten Begegnung mit ihm erfuhr ich, sein Urenkel, durch zwei seiner Enkelinnen, Sieglinde Breuer, geb. Treiber, und Gertrud Heinrichs, geb. Treiber, endlich, wann, wo und woran er gestorben ist: 1951 mit 86 Jahren in Wolmirsleben südlich von Magdeburg nach einem Oberschenkelhalsbruch. 1947 hatte ihn seine Tochter Anna Treiber, geb. Sabransky, aus einem Altersheim in Alzenau bei Aschaffenburg nach Wolmirsleben bei Magdeburg, dem Vertreibungsort der Familie Treiber, geholt.

Und am Ostersamstag 2006 besuchte ich zusammen mit den beiden Schwestern und ihrem Bruder Erwin den Friedhof, auf dem Georg Sabransky beerdigt wurde. Sein Grab ist längst eingeebnet, die Stelle seiner Grablegung aber konnten mir die Geschwister noch zeigen. Die übrigens bis dahin keine Ahnung von dem "Vorleben" ihres Großvaters hatten, also auch nichts von ihrer "Verwandtschaft" zu mir.

Ergänzend sei noch hinzugefügt, dass Georg Sabransky bereits 1892 als Webmeister in die Textilfabrik Ginsberg & Stroß, der späteren Noe Stroß A.-G., eintrat, 1899 Franziska Erben aus Frankenhammer bei Graslitz, ebenfalls eine Beschäftigte der Fabrik, heiratete und mit ihr drei Kinder hatte, die bereits erwähnte Anna, die 1918 an der damals grassierenden Spanischen Grippe verstorbene Marie und einen Sohn namens Josef, über den es aber keinerlei Nachrichten gibt.

Siegfried Träger

1 Kommentare:

Am/um 13. Juli 2011 um 19:08 , Blogger IVNIKVIII meinte...

I would be interested to know if you or your parents remember the Baum "geschaft" im Leibauthal.

 

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