Montag, 8. Dezember 2008

Liebauthaler Buben machen eine Zechenexkursion

Die Textilfabrik von Liebauthal im Egerland samt der drei Reihen Mietskasernen für die Beschäftigten sowie weitere Bauwerke waren vor der „Arisierung“ durch Hitler-Deutschland Eigentum der Noe Stroß Aktiengesellschaft Liebauthal und Weißwasser. Ihre Energie bezog die Fabrik in Form von Braunkohle aus einem eigenen Bergwerk, der Ernst-Ludmilla-Zeche zwischen Liebauthal und dem benachbarten Königsberg an der Eger. Vor Inbetriebnahme einer Drahtseilbahn um das Jahr 1910 transportierte man die Kohle mit Pferdefuhrwerken, danach mit den Hunten der Seilbahn, die auf gleichem Wege die nach der Verbrennung anfallende Schlacke zurück zum Bergwerk brachten, wo sie auf einer Halde landete (das Bild von etwa 1937 zeigt die Einfahrt eines Huntes in die Fabrik, Bildgeberin Frau Maria Schricker, Donaustauf).

Wie jedermann in Liebauthal die Drahtseilbahn "d' Luftbon" (Luftbahn) nannte, so die Zeche nur "d' Oram", also Abraum. Diese Benennung mochte von den Abraumhalden herrühren, die sich in der Nähe des Ludmilla-Schachtes auftürmten. Der Schacht ist seit langem schon stillgelegt, ihr Förderturm abgebaut, und auf den kaum noch erkennbaren Abraumhalden wachsen Bäume.

Hielt man sich während meiner Kindheit, also in den 1940-er Jahren, in der Nähe der Luftbahn auf oder wohnte man, wie ich, direkt daneben, sah man jeden Werktag so gegen die Mittagszeit im Rahmen eines der Luftbahnhunte, der über die Höhe zurück ins Bergwerk schaukelte, eine Tasche. Eingeweihte, zu denen wahrscheinlich alle Bewohner der Kolonie gehörten, wussten, dass die Tasche das Mittagessen für Herrn Treiber enthielt. Karl Treiber, ein Königsberger, der aber mit seiner großen Familie in Liebauthal wohnte, arbeitete auf der Oram als "Luftbonoa(n)schuckerer", was ins Hochdeutsche etwa mit Luftbahnanschieber übersetzt werden könnte.

Es muss jemand wohl im Schatten des Transportsystems Luftbahn geboren sein, um auf Anhieb zu verstehen, welchem Beruf Herr Treiber auf der Ludmilla-Zeche nachging. Ich will es Unkundigen kurz darlegen: Luftbon oa(n)schuckern war die verantwortungsvolle Tätigkeit, mit der die eisernen Hunte, sobald sie auf dem Bergwerk mit Braunkohle beladen oder in der Fabrik von ihrer Fracht befreit waren, wieder auf die Reise geschickt wurden. Um die heranschaukelnden Wagen der Seilbahn am jeweiligen Ziel zum Stillstand zu bringen, mussten sie vom ständig laufenden Zugseil, das zwischen zwei Eisenbacken verklemmt war, abgekoppelt werden. Das Umgekehrte, nämlich die Ankoppelung, geschah, indem das Zugseil mittels eines kurzen, massiven Hebels, auch Hahn oder „Hon(e)“ genannt, wieder zwischen den Eisenbacken verklemmt wurde. Und eben das war die Aufgabe des Luftbahnanschiebers. Um die erforderliche Hebelarbeit zu erleichtern, benutzte er dabei einen Eisenstab als zweiten Hebel. Verantwortungsvoll war die Tätigkeit des Anschuckerers, weil Nachlässigkeit schlimme Folgen haben konnte. Denn löste sich auf den abschüssigen Strecken zu uns ins Tal oder zum Bergwerk ein Hunt von seinem Führungsdraht, riss er unweigerlich weitere Hunte mit, alle zusammen sprangen schließlich aus dem Rollseil und stürzten ab. Allein während meiner kurzen Kindheit von 1939 bis 1946 in Liebauthal ereigneten sich mehrere solcher Luftbahnunfälle, wenigstens einen davon erlebte ich als Ohren- und Augenzeuge direkt mit. Das Desaster begann jedesmal mit einem singenden, schnell greller werdenden Ton, der die gewöhnlichen Geräusche des Tales überlagerte. Diesen Ton erzeugten die Rollen des Hundes, sobald sich das Gefährt von seinem Führungsseil gelöst hatte und mit zunehmender Geschwindigkeit abwärts raste. Es brauchte dann nur Sekunden, bis das Getöse kollidierender und abstürzender Hunte einsetzte, gefolgt von einer geradezu unheimlichen Stille. Nicht von derlei dramatischen Ereignissen, an denen die Menschen der Kolonie immer lebhaft Anteil nahmen, will ich hier weiter berichten. Vielmehr soll es im Folgenden um einen denkwürdigen Ausflug eines Häufleins Liebauthaler Vorschul-Buben an den Arbeitsplatz des Luftbahnanschiebers Karl Treiber gehen.

Den Anstoß zu diesem Unterfangen gaben vermutlich zwei Umstände. Zum einen war das Umfeld der Luftbahn unser liebster Ort zum Spielen, der jeden Tag zu neuen, zuweilen sogar gefährlichen Abenteuern lockte. Hinzu kam die Kenntnis davon, dass Erwin, einer aus unsrer Clique, Herrn Treibers Sohn war. Wer anders als Erwin, mochten wir uns gesagt haben, konnte uns Zugang in das geheimnisvolle Innere der Schachtanlage verschaffen. Einfach aber war es keineswegs, den Treiber Erwin zu einem Besuch der Arbeitsstätte seines Vaters zu bewegen. Entsprechende Wünsche von uns wehrte er mit immer dem gleichen Einwand ab: Der "Trojan" würde es bestimmt nicht leiden, es also nicht zulassen. Weiteren Andeutungen Erwins zufolge musste dieser Trojan ein großes Tier, vielleicht der Zechenchef selbst sein, auf jeden Fall ein grober Mensch, mit dem nicht gut Kirschen essen ist. Weil ihn niemand von uns kannte, waren Erwins abschreckende Schilderungen kaum zu widerlegen.

Entgegen allen Bedenken und Warnungen brachen wir Buben einschließlich Erwin eines Tages trotzdem auf zur "Oram". Vor machten wir uns nichts: Die Zeche würde nur mit Erlaubnis der Leitung zu betreten sein. Folglich versuchten wir zunächst das Gebäude auszumachen, in dem wir den gefürchteten Herrn Trojan vermuteten. Das dort, ein (nach meiner Erinnerung) niedriger Ziegelbau unterhalb des Förderturmes, könnte es wohl sein, entschieden wir, und klopften oder klingelten an seiner Tür.

Auf der Schwelle erschien eine Frau. Deutlich verwirrt angesichts der Bubenschar, fragte sie nach unseren Wünschen. Den Herrn Treiber wollten wir besuchen, und auf Erwin weisend fügten wir hinzu: "Des is d(e) Data vo dean dou". Jetzt lachte die Frau in der Tür: "Sua, zun Herrn Treiber wollts, no, doa kummts no mol eine".

Es war offenbar das Zechenbüro, in das wir gebeten wurden und hier warten sollten. Die Dame verschwand in einem angrenzenden Zimmer, erschien aber kurz danach wieder und forderte uns erneut auf, ihr zu folgen. Sie führte uns geradewegs hinüber in eine Halle, in derem Halbdunkel wir auch sogleich Herrn Treiber bei der Arbeit erblickten, beim Luftbahnanschieben eben, sein Gesicht und seine Kleidung vom Kohlenstaub geschwärzt. Anwesend war außerdem ein russischer Kriegsgefangener, den wir gleichfalls alle von Liebauthal her kannten. Dessen Aufgabe bestand darin, die leeren, von ihrem Führungsseil gelösten Hunte unter einen Holzschacht zu platzieren, aus dem nach Betätigung eines Hebels von oben her die Kohle in den Kasten des Huntes rutschte. Im gleichen Rhythmus wie der Russe den gefüllten Wagen dann an Herrn Treiber weiter schubste und der ihn, nach Befestigung am Führungsdraht, auf die Reise nach Liebauthal schickte, fuhren die leeren Wagen in die Halle ein. Ein spannendes Zusammenspiel von Mensch und Technik, an dem ich mich kaum satt sehen konnte.

Ob freilich Erwins Vater von unserer „Betriebsbesichtigung“ erbaut war, bezweifle ich noch heute. Überzeugt hingegen bin ich, dass niemals vorher ähnlich aufmerksame Gäste die „Ernst-Ludmilla-Zeche“ besucht haben. Den gefürchteten "Trojan" allerdings bekamen wir in keiner Phase unseres Besuches zu Gesicht. Oder hat uns Erwin etwa ein verzerrtes Bild von ihm gezeichnet und Herr Trojan war in Wirklichkeit doch besser als sein Ruf? Und überhaupt: Hat es den Trojan eigentlich wirklich gegeben?

Nachtrag:

Eduard Trojan, der unweit der Zeche in Königsberg wohnte, war zur Zeit unseres Besuches der Ludmilla-Zeche Schichtmeister (Rechnungsführer). Wem wir Buben den freien Zugang ins Innere der Zechenanlage verdankten, bleibt allerdings ein Geheimnis.

Siegfried Träger

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