Montag, 15. Dezember 2008

Ein verhängnisvoller Militärunfall

Es war ein ganz normaler Nachmittag im sechsten, also letzten Jahr des 2. Weltkriegs. Mit Ausnahme einiger Tieffliegerangriffe, die kaum Schäden verursachten, war Liebauthal vom Krieg fast unbehelligt geblieben, und das, obwohl in Teilen der großen Textilfabrik ukrainische Fremdarbeiter und dienstverpflichtete deutsche „Arbeitsmaiden“ für eine hierher ausgelagerte Kugellagerfabrik arbeiteten. An eben jenen Nachmittag aber musste etwas Schreckliches geschehen sein. Laut weinend lief eine Frau, die Hände ins Haar verkrallt, an den Mietskasernen der Kolonie entlang und schrie "Blut überall, der arme Mann, Blut überall, der arme Mann". Was war geschehen? Hatte vielleicht ein blutiges Fabriksunglück die Frau derart außer Fassung gebracht? Womit ich auch immer be-schäftigt war, ich ließ es liegen und machte mich zwischen "unterer" und "mittlerer" der drei Reihen Mietskasernen hinauf zur Lenkenstraße, woher die Frau gerannt gekommen war.

Die Szene, die sich mir wenig später bot, war in der Tat erregend: Am obersten Absatz einer Treppe, die am Schulhaus vorbei hinunter zur Fabrik führte, hantierten ein paar Männer mit einer Tragbahre, auf der sie offensichtlich versuchten, einen Soldat in deutscher Uniform zu transportieren. Gellende Schreie ausstoßend, sprang der Soldat immer wieder von der Bahre auf, während Blut über das angstverzerrte, bleiche Gesicht floss. Nur mit viel Mühe schafften es die Helfer, den Tobenden zu bändigen, um ihn in das Portierhaus der Fabrik zu tragen, wo sich ein Sanitätsraum befand.

Nur Augenblicke später und ein paar Meter weiter erkannte ich die Ursache des blutigen Dramas: Zwischen dem Tor der Gärtnerei und dem sogenannten "Baumhaus" (Foto), dort wo die Lenkenstraße von Königsberg her kommend nach steilem Gefälle eine Rechtskurve einschlug, häufte sich ein Berg deformierter Eisenteile auf. In dem Gewirr sah ich zuerst einen umgekippten Panzerspähwagen. Das war ein Kettenfahrzeug mit lenkbaren Rädern vor dem Führerhaus. Jetzt lag der Koloss unbeweglich da, als habe ihn ein Feind im Kampf gefällt. Fast den gesamten Kurvenbereich aber nahm eine Lafette mit Vollgummibereifung ein, daneben kieloben liegend ein riesiges Geschütz.

Zahlreiche Gaffer umringten bereits die Unfallstelle. Aus ihren Gesprächen schnappte ich auf, wie es zu diesem Desaster gekommen sein soll. Aufgeregt erzählte man sich, die Bremsen des Panzerspähwagens hätten versagt, und beim Absturz der Kanone von der Lafette habe das Rohr dem Begleitsoldaten ein Loch in den Kopf geschlagen. Das musste der arme Mensch gewesen sein, den man soeben blutüberströmt und schreiend an mir vorbei getragen hatte - und der, wie am nächsten Tag zu hören war, an seinen Verletzungen noch im Sanitätsraum gestorben sein soll.

Dass dieser Unfall knapp vor Kriegsschluss beinahe mehr als ein Leben gefordert hätte, erfuhr ich erst Jahrzehnte später, bei dieser Gelegenheit allerdings auch die Vorgeschichte und den Ablauf der Todesfahrt. Mitgeteilt hat sie mir ein Zeuge, der das Geschehen von seinem Anfang bis zum bitteren Ende gewissermaßen als blinder Passagier wirklich miterlebt hatte: Josef "Peppi" Kindler, den es wie mich nach der Vertreibung nach Krofdorf bei Gießen verschlug. Peppi, seinerzeit im Gegensatz zu mir bereits ein Schulbub, wusste mir Folgendes zu berichten:

"Im Schabener Wald lagen deutsche Soldaten und bei der Försterei auf einer Wiese nahe der Straße nach Königsberg stand eine Kanone auf einem fahrbaren Untersatz". Diese Kanone sollte die bereits vom Westen her anrückende amerikanische Panzerarmee abwehren. Doch bald erkannte man: Mit einer einzigen Kanone würden wohl kein Panzer mehr aufzuhalten sein, und man entschied, das Geschütz aus Liebauthal in Richtung Osten abzuziehen.

Dazu bereitgestellt als Zugmaschine wurde ein Kettenfahrzeug, ein Panzerspähwagen. Peppi, der mit ein paar anderen Buben die Aktion verfolgte, erinnerte sich, dass das Fahrzeug trotz Aufwand aller Kraft die schwere Fracht nicht von der Stelle brachte, weil seine Ketten einfach durchdrehten. Zu tief nämlich waren inzwischen die Räder der Lafette unter der Last des Geschützes in den weichen Wiesengrund gesunken. Um die Bodenhaftung des Kettenfahrzeuges zu verbessern, belud man es mit Munitionskisten. Und siehe da, das half, und die Lafette samt Kanone ward auf die Straße bugsiert.

Einige der Buben, die das Werk aufmerksam verfolgt hatten, kletterten jetzt unbekümmert auf die Zugmaschine, Peppi wählte nach seiner Erinnerung als Sitz das rechte Schutzblech vorne. Bald rollte das Gespann zunächst gemächlich die steile Lenkenstraße abwärts ins Herz der Kolonie hinein (siehe Foto aus den 1930er Jahren). Doch bereits in Höhe der Konditorei Fibiger - das Gefälle erreichte hier den höchsten Grad - bemerkte Peppi, "dass etwas nicht in Ordnung war, dass wir immer schneller wurden". Es sah ganz so aus, als hielten die Bremsen der Zugmaschine dem Druck der angehängten Last nicht stand.

In der Rechtskurve dann geschah es: Unter dem Einfluss der Fliehkraft neigte die Kanone sich nach links, kippte um und stürzte mitsamt dem Kanonier auf die Fahrbahn. Im Gefolge davon legte sich die Zugmaschine gleichfalls auf die Seite, und der blinde Passagier auf dem Schutzblech schleuderte von seinem ungesicherten Sitz herunter. In welch heikle Situation er da geriet, erlebte Peppi damals so: "Ich lag auf dem Bauch, auf meinem Rücken lag ein Blech und auf das musste etwas Schweres gefallen sein, denn ich konnte mich nicht rühren". Es war ein gefährliches Gewicht, das den Buben niederdrückte, eine Granate nämlich aus einer der Munitionskisten, die dem Panzerspähwagen als Ballast aufgebürdet worden waren. Erst nachdem jemand das schwere Objekt mitsamt dem Blech vom Körper des Abgestürzten entfernt hatte, konnte Peppi sich wieder aufrichten. Völlig unbeschädigt, wie sich schnell herausstellte. Ein Glück für ihn und ganz Liebauthal war, dass weder die Granate noch ein anderes Geschoss bei der Havarie explodierten.

Schon am folgenden Tag waren alle Unfallspuren beseitigt. Wenig später rollten amerikanische Tanks, begleitet von Infanteristen, in Liebauthal ein. Aus mehreren Fenstern der Mietskasernen hingen weiße Betttücher als Zeichen der Unterwerfung und dass man die Hoffnung auf den immer wieder versprochenen "Endsieg" ein für allemal aufgegeben hat. Für viele Liebauthaler aber war der Einzug der Amerikaner und damit das Kriegsende durchaus ein freudiges Ereignis. Was ihnen knapp ein Jahr später blühte, das freilich ahnten sie zu dieser Zeit noch nicht.

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