Mittwoch, 17. Dezember 2008

Ein gewagter Grenzübertritt

Obwohl erst 6 Jahre alt, hielt ich mich nach Ende des Krieges des öfteren in Falkenau, der Kreisstadt Liebauthals, auf. Verdankt habe ich das dem Umstand, dass hier meine Großmutter Marie Nehyba im Dienste der US-Besatzungsmacht ehemalige russische Kriegsgefangene pflegte. Allerdings kannte ich die Stadt bereits von früheren Besuchen, einer davon kurz nach einem Bombenangriff, der in einer Straße nahe der Stadtkirche einen tiefen Krater hinterlassen hatte. Aber das sind nur sehr undeutliche Erinnerungssplitter. Viel besser im Gedächtnis indes blieben mir Erlebnisse aus den Nachkriegsmonaten, wie etwa folgendes:

Mit zunehmender Entfernung vom Kriegsende nahte allmählich der Spätsommer des Jahres 1945. Das Egerland war nach mehr als sechs Jahren Zugehörigkeit zum nazistischen "Großdeutschen Reich" wieder Teil der Tschechoslowakei geworden, Falkenau aber stand noch immer unter Kuratel der Amerikaner. Die Amis waren mit ihren Panzerverbänden nach Durchquerung Deutschlands bis zu uns nach Westböhmen vorgedrungen, hatten ihren Vormarsch aber abgebrochen und damit ihren russischen Verbündeten die Möglichkeit verschafft, den größeren Teil Böhmens zu erobern, ein Vorgang, über dessen Motiv Jahrzehnte später noch herumgerätselt wurde. Das kleine, amerikanisch kontrollierte Territorium Böhmens und die sowjetische Einflusszone trennte jetzt eine sogenannte Demarkationslinie, ein Streifen Niemandsland, der teilweise knapp östlich Falkenaus verlief, wo meine Großmutter Marie Nehyba in amerikanischem Sanitätsdienst stand. Zuweilen hörte man aus Richtung dieser merkwürdigen Grenze, die die siegreichen Waffenbrüder gegen Deutschland zwischen sich gezogen haben, Schüsse. Die stammten, so erzählte man sich in der Stadt, aus Gewehren russischer Soldaten. Nähere sich den Russen nämlich im Bereich des Niemandslandes eine Person, nähmen sie diese ohne Warnung sofort unter Feuer. War es da nicht geradezu eine Herausforderung des Schicksals, dem "russischen" Gebiet einen Besuch abzustatten? Einen solchen Plan nämlich hegten wir tatsächlich eines Tages.

Wir, das waren die bereits erwähnte Großmutter, dazu ich, ihr noch nicht ganz siebenjähriger Enkel, sowie meine Tante Emma Kühnl, geborene Träger, von Herkunft wie ich eine Liebauthalerin, aber schon seit längerem eine Bürgerin der Kreisstadt. Zu welchem Zweck jedoch planten wir ein solches "Himmelfahrtskommando". Zu keinem anderen, als uns Obst zu besorgen, genauer Birnen, die angeblich in dem Dorf Lanz prächtig gedeihen sollten. Der Haken an diesem Vorhaben bestand aber eben darin, dass Lanz bereits zum russisch besetzten Gebiet Westböhmens gehörte. Um dorthin zu gelangen, musste man also das Niemandsland durchqueren und dann, glaube ich, den Russen Passierscheine vorweisen, die wir natürlich nicht besaßen.

Doch wozu benötigt man Papiere, wenn man genug Wagemut aufbringt! Angst vor dem "Iwan"? Davon wollte meine Großmutter nichts wissen. "Und außerdem", versuchte sie die furchtsamere Tante zu beruhigen, "kann ich doch Tschechisch". Wolle uns ein Russe kontrollieren, und damit war wohl zu rechnen, gäben wir uns einfach als Tschechen aus, und denen geschehe ja bekanntlich von den Russen nichts. Aber die Schüsse auf unbewaffnete Zivilisten? Also das könne sie sich wirklich nicht vorstellen, konterte die Großmutter. Gerüstet mit soviel Zuversicht, überschritten wir bei herrlich blauem Himmel die Egerbrücke, durchwanderten das Industriedorf Zwodau und erreichten bald das gerade Band der Landstraße nach Lanz, über deren Fläche die aufgeheizte Luft flimmerte. Entsinne ich mich richtig, begleitete uns rechter Hand ein Wäldchen, das vom Weg durch einen breiten Feldstreifen getrennt war. Verbargen sich etwa in diesem Gehölz schon die Russen? Oder gehörte dieser Landstrich noch den Amis, fragten sich die drei auf ihrer Wanderung ins Ungewisse. Behaglich, das spürte man, war keinem zumute. Doch alles blieb friedlich, nichts Verdächtiges rührte sich, man hörte nur Grillen zirpen, sah aber keine Menschenseele weit und breit.

Mit einemmal jedoch hielt eine der beiden Frauen inne. Unsere Blicke richteten sich geradeaus auf ein Objekt, das noch ein gutes Stück von uns entfernt an der Straße stand. Nach kurzem Rätselraten einigten wir uns darauf, dass es sich nur um ein Wachhäuschen handeln konnte. Dort also, schlossen wir aus unserer Entdeckung, verlief die ominöse Grenze, hinter der das russische Reich begann. Befremdend nur: das Häuschen schien unbemannt. Sollten wir aber, unserem Ziel schon ziemlich nahe, vor einem leeren Wachhäuschen zurückweichen? Das nun doch nicht! Entschlossen nahmen wir unseren Marsch wieder auf, zugegeben, von nun an vielleicht noch etwas zögerlicher als bislang. Nichts anderes bewegte sich auch weiterhin als die flimmernde Luft über dem heißen Straßenbelag. Kaum aber hatten wir uns dem scheinbar leeren Kasten am Straßenrand bis auf wenige Schritte genähert, geschah etwas, von dem ich heute nicht mehr weiß, wie wir darauf reagierten. Es muß aber eine Mischung aus Verblüffung und Erschrecken gewesen sein. Jedenfalls trat knapp vor uns ein Soldat aus dem Inneren des Häuschens auf die Straße. Mag sein, dass auch er uns bis dahin nicht bemerkt hatte. Was ich jedoch sogleich erkannte: dass es kein amerikanischer Soldat sein konnte. Das sagte mir auf den ersten Blick der Schnitt und die Farbe der Uniform. Das Gewehr geschultert, barhäuptig und mit kahlgeschorenem Schädel schaute uns wirklich ein Russe entgegen. Man muss zugeben: eine gut genährte, saubere Erscheinung. Welch ein Unterschied im Vergleich zu seinem stets in Lumpen gehüllten Landsmann, der bis vor kurzem noch als Kriegsgefangener die Hunte der Luftbahn zwischen Liebauthal und Königsberg mit Kohle belud!

Es lag auf der Hand, dass wir dem Posten unsere Gegenwart hier auf der Straße nach Lanz würden erklären müssen. Also trat meine Großmutter an ihn heran, wünschte ihm tschechisch "dobrý den" und wies auf die leere Tasche, die sie zum Transport der Birnen bei sich trug. Währenddessen kramte sie ein paar weitere Worte aus ihrem Tschechisch-Fundus hervor. Ob der junge Iwan sie überhaupt verstanden hat? Weil er aber wohl schnell erkannte, welch harmloses Volk da über die Grenze wollte, ließ er uns mit einer Handbewegung und etwas verlegen lächelnd in seinen Herrschaftsbereich ein.

Nur wenig später kamen wir in Lanz an. Ähnlich der soeben durchquerten Landschaft wirkte auch das Dorf wie ausgestorben. Wo nur hielten sich die Bewohner auf? Etwa auf den Feldern, um den letzten Rest der Ernte einzubringen? Oder versteckten sie sich, weshalb auch immer, in ihren Häusern? Ein wenig irritiert hat uns die Leere schon. Zum Glück, so beruhigten wir uns, besaßen wir ja eine Adresse, an die wir uns wegen der Birnen wenden sollten. Nur: als wir das entsprechende Anwesen nach kurzer Suche fanden, öffnete niemand, wir mochten noch so heftig klopfen. Aber zurückkehren ohne die begehrten Birnen, nein, das durften wir uns nicht antun nach einem solch riskanten Hamstergang. Irgendwo, so spekulierten wir, müsse das Obst doch schließlich wachsen.

Tatsächlich stießen wir nach einigem Herumschnüffeln an einen Garten, über dessen Zaun ein paar Äste ragten und die wahrhaftig Birnen trugen, gerade noch erreichbar mit ausgestrecktem Arm. Ohne groß auf unerwünschte Zeugen achtend, griffen die Damen hastig nach den Früchten und verstauten das geraubte Gut gleichfalls flink in der mitgeführten Tasche. Mit der Beute (deren Exemplare meiner Erinnerung nach keineswegs den Beschreibungen und hohen Erwartungen entsprachen) traten wir schließlich wieder den Rückzug an, der allerdings noch eine denkwürdige Verzögerung erfuhr.

Entweder wir hatten beim Einzug in Lanz einen anderen Weg genommen als jetzt beim Verlassen des Ortes. Oder sie war erst ins Freie gekommen, während wir schon heftig nach den Birnen forschten. Wie auch immer, jetzt erblickten wir im Schatten eines der Häuser an der breiten Dorfstraße (eigenes Foto von 1995) eine alte, ganz in Schwarz gekleidete Frau. Sie saß auf einem Stuhl und war offenbar beschäftigt. Womit, das nahm ich erst wahr, als wir grüßend an sie herantraten. Die Hände der Alten wirbelten eifrig kleine runde Stöckchen durcheinander. Von jedem dieser Stöckchen ging ein weißer Faden aus, und alle Fäden vereinigten sich auf einem mit Nadeln bespickten Kissen. Befestigt war das Kissen auf einem Gestell mit vier Füssen. Zum erstenmal im Leben sah ich eine Spitzenklöpplerin am Werk. Die emsigen Hände der Klöpplerin ruhten nicht einmal, als Großmutter und Tante ein Gespräch mit ihr anknüpften, allerlei Fragen zu ihrer Kunst stellten und durchaus freundlich Auskunft erhielten - derweilen ich sprachlos auf das verwirrende Fadenwerk starrte. Häkeln, Nähen, Stricken, diese Handarbeiten waren mir vertraut, ich kannte ihren Zweck und ihre Produkte. Wozu hingegen "Klöppeln" nutzte, blieb mir an jenem Nachmittag verborgen. Etwas besonderes musste es wohl sein, davon zeugte schon die seltsame Neugier meiner Begleiterinnen. Und dass die Klöppelkunst im nördlichen Egerland geradezu handwerklich und zum Broterwerb betrieben wurde, davon erfuhr ich überhaupt erst viel später.

Die Zeit drängte. Die langen Schatten auf die Dorfstraße gemahnten uns, der klöppelnden Lanzerin Adieu zu sagen. An der "Grenze" stand immer noch unser alter Bekannnter, der junge Russe. Den Inhalt unserer Birnentasche ignorierte er, vielleicht aus Müdigkeit vom langen Dienst in der Sommerhitze. Eine Inspektion hätte sich auch nicht gelohnt. Denn dass es in Lanz besonders gute Birnen und reichlich davon gäbe, war halt doch nicht mehr als ein Gerücht. Was nicht heißt, dass ich mich nicht gerne an diesen Hamstergang erinnere.
Siegfried Träger

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