Donnerstag, 18. Dezember 2008

Im Lazarett der Besiegten

Meinen siebten Lebenssommer, den des Jahres 1945, verbrachte ich zu einem guten Teil in Falkenau, der Kreisstadt meines Heimatortes Liebauthal. Beide egerländer Orte findet man nur schwer noch unter ihren ursprünglichen Namen, Falkenau firmiert heute unter Sokolov, die Kolonie Liebauthal als Libavské Údolí. Drehpunkt meiner Tage in Falkenau war ein düsteres weiträumiges Gebäude zwischen dem Stadtschloss und dem Marktplatz, das mir unter der Bezeichnung „Amtshof“ in Erinnerung ist. Nach Kriegsende hatten die Amerikaner den gesamten Komplex requiriert und darin, neben militärischen Verwaltungsstellen, eine Pflegeabteilung für russische Kriegsgefangene eingerichtet. Die waren nach ihrer Befreiung aus umliegenden Lagern aufgesammelt worden, aber durch die Bedingungen ihrer Haft so schwer krank, dass keiner von ihnen überlebte. Dass ich, der kleine Deutsche, von einer solchen Einrichtung der Sieger überhaupt wusste, mag merkwürdig erscheinen, erklären lässt sich diese Kenntnis jedoch recht einfach: Hier besuchte ich zuweilen meine Großmutter Marie Nehyba, damals eine resolute Frau um die 50, die kurz nach ihrer Entlassung aus deutschem Sanitätsdienst von der Besatzungsmacht zur Pflege der russischen Patienten in den Amtshof verpflichtet worden war. Während meiner Besuche in Falkenau genoss ich freie Unterkunft mit echt amerikanischer Kost und verfügte über reichlich Zeit für Streifzüge durch die okkupierte Stadt und ihr näheres Umland. Einige Ereignisse und Eindrücke aus dieser "Zeit zwischen den Zeiten", als formell zwar längst die Waffen schwiegen, die Wunden des Krieges aber noch vielfältig sichtbar waren, stehen mir mehr als sechs Jahrzehnte noch immer lebhaft vor Augen. Wovon folgende Episode zeugen mag:

Ein warmer Sommertag neigte sich schon dem beginnenden Abend zu, als die Großmutter mich einlud, sie hinaus vor die Stadt zu begleiten. Sie war, als wir aufbrachen, gekleidet in ihre Dienstuniform, die sie als Schwester des Roten Kreuzes auswies. Denn unser Ziel sollte ein Lazarett sein, das Lazarett für jene deutschen Soldaten, die noch bei Rückzugsgefechten mit der US-Armee in Westböhmen verwundet worden waren. Neben der Sorge für die sterbenden Russen gehörte es nämlich auch zur Pflicht der Schwester, die Pflege ihrer besiegten Landsleute zu überwachen.

Nachdem wir die letzten Häuser Falkenaus in Richtung Kaiserwaldgebirge hinter uns gelassen hatten, gerieten wir in eine Gegend, die sich als ödes Brachland mit Unkraut und Buschwerk vor uns ausbreitete. Zwischen der spärlichen Bepflanzung erstreckten sich ausgedehnte Flächen roter Erde ohne Mutterboden und ohne Vegetation. Ein Gebäude allerdings, das meinem Bild von einem Lazarett entsprach, war weit und breit in dieser Wüstenei nicht auszumachen. Lediglich in einiger Entfernung eine Baracke, deren Zweck ich zunächst aber nicht erkannte. Erst als die Großmutter geradewegs das schäbige Bauwerk ansteuerte und, mich im Schlepptau, den Eingang an seiner schmalen Seite durchschritt, ging mir auf, dass wir tatsächlich am Ziel waren. Ich konnte es kaum fassen. Lazarette waren für mich nach eigener Erfahrung große, stabile Häuser. Das hier hingegen glich eher einem Elendsquartier. Was ich damals freilich nicht wusste und auch heute nur vermuten kann: dass vielleicht in eben diesem Bauwerk unter deutscher Herrschaft ebenfalls Menschen hausten, russische Kriegsgefangene oder sogar KZ-Häftlinge. Zumindest gibt es Berichte amerikanischer Zeugen über Konzentrationslager in der Nähe Falkenaus. Es konnte sich aber auch um eine ehemalige Militärbaracke gehandelt haben. Jetzt aber beherbergte die Baracke kranke und verletzte deutsche Ex-Soldaten.

Als wir das Barackeninnere betraten, saßen oder lagen die Blessierten auf Pritschen, die mit Weißzeug überzogen waren und sich beidseits des Längsganges dicht aneinander reihten. An Leinen, die sich von Balken zu Balken zogen, hingen Wäschestücke, zur Kühlung standen alle Fenster offen. Die Schwester grüßte, und sogleich scholl ihr ein vielstimmiges "Hallo" entgegen, vermischt mit Zurufen, die Freude über ihre Ankunft und Vertrautheit mit ihrer Person verrieten. Ihre Antworten auf die Zurufe wiederum bewiesen Geschick im Umgang mit verwundeten Soldaten. Ich merkte, ohne mich an einzelne Worte zu erinnern, dass jeder dieser geschlagenen "Landser" und "Kerle" - meine Großmutter sprach von Soldaten nur in diesem Jargon - auf ihre Zuwendung und Fürsprache zählen durfte, dass sie sich nicht allein um ihre Pflege kümmerte, sondern auch ihr "Anwalt" bei den Siegern war.

Indes, unsere Visite galt nicht allein den Männern in der Massenunterkunft. Durch eine Tür am Ende des Mittelganges der Baracke betraten wir einen Raum, in dem sich lediglich drei Betten, richtige Betten, keine Pritschen also, befanden. Zwei waren nebeneinander angeordnet, das andere stand etwas abseits davon. Von diesen Betten her aber wurden wir nicht fröhlich begrüßt. Statt dessen herrschte in diesem Zimmer eine geradezu spürbar unheilvolle Stille. Mit dem zunächst einzig sichtbaren Bettinsassen wechselte die Schwester ein paar Worte, so leise, dass ich davon nichts verstand. Später dann, wohl draußen oder gar erst nach unserer Heimkunft, bezeichnete sie diesen Kranken als "Todeskandidaten", nannte mir den Grund für dieses Urteil aber nicht. Bei dem Gespräch muss es, das entnahm ich den Gesten, um den Patienten im Nachbarbett gegangen sein. Dessen Liegestatt fiel zunächst vor allem durch einen zeltförmiger Aufbau aus Tüll ins Auge. Was sich dahinter verbarg, wurde erst sichtbar, als die Schwester das Gewebe ein wenig zur Seite schob. Ich erblickte, nur für ein paar Sekunden, das zerstörte Gesicht eines Menschen. Es ruhte unbeweglich auf einem Kissen und glänzte lachsrot, was bei mir den Eindruck einer lackierten Maske hervorrief, ein Bild, das sich mir genau so einprägte wie die Baracke, die das Schauerliche barg. Wiederum erst später erfuhr ich, daß brennender Phosphor die Gesichtshaut des Unglücklichen abgelöst und so das Fleisch darunter bloßgelegt hat. Ein hoffnungsloser Fall auch der und trotzdem nicht der schlimmste in dieser Schreckenskammer.

Den barg - im wahrsten Sinne des Wortes - die dritte Lagerstatt. Vollständig von einem feuchten Laken bedeckt, verdämmerte darin unter leisem, aber deutlich vernehmbarem Wimmern das Leben eines jungen Menschen. Obgleich eigentlich ein Zivilist, hatte es doch Gründe für seine Aufnahme in das Militärlazarett gegeben: Zum einen war er wie ein Soldat kriegsbedingt lädiert, zum anderen sollte er aus Königsberg oder dessen näherer Umgebung stammen, von amerikanischem Besatzungsgebiet also. Die Ursache seines Unglücks kannte ich bereits, es war tagelang Gesprächsstoff auch in meinem Wohnort Liebauthal: Daraus war zu entnehmen, daß ein Halbwüchsiger eine Granate, die Soldaten hinterlassen hatten, geöffnet und dann ihr "Pulver" angezündet habe. Von einer "Stichflamme" war die Rede, die dem Buben die gesamte Vorderseite seines Körpers vom Gesicht bis zu den Füßen verbrannt habe.

Freilich, niemand wusste genau, wieviel an den Erzählungen über das schlimme Ereignis der Wahrheit entsprach und was davon auf die Phantasie der Übermittler zurückging. Man tat in jenen zeitungslosen Tagen gut dran, dem bloß Gehörten und Gesagten lieber zu mißtrauen. Am sichersten noch war es, den Inhalt einer Nachricht oder eines Gerüchtes durch eigenen Augenschein zu überprüfen. Und eben eine solche Chance bot sich mir jetzt hier in dieser Baracke am Rande Falkenaus.

Vom Fußende des Bettes her lüftete meine Führerin das Leintuch, unter dem sich schwach die Konturen des Patienten abzeichneten. Zum Vorschein kamen dabei zwei dünne Beine, die von den Fußrücken bis zu den Knien ein brauner Schorf bedeckte. Das sah aus, als sei die Haut von einer Schmutzschicht überzogen. "So zugerichtet ist auch seine Brust und sein Kopf", flüsterte mir die Großmutter zu. Nur sein Bauch sei unversehrt geblieben, weil er bei dem Unfall gehockt habe. Dann legte sie die schützende Hülle wieder sanft auf die versengten Glieder des Wimmernden. Und damit bricht meine Erinnerung an diesen Krankenbesuch ab.

Wenig später, ich war inzwischen nach Liebauthal zurückgekehrt, fiel mir ein kleines Lastauto auf, das von Königsberg her in Richtung Falkenau fuhr. Auf seiner Pritsche lag, mit Seilen befestigt, als einzige Ladung ein Sarg aus rohem Holz. Da mir zu Ohren gekommen war, daß der verbrannte Junge am Tag vorher gestorben sei, glaubte ich fest, das Auto hole ihn für seine letzte Fahrt. Und so mag es wohl auch gewesen sein.

Epilog

53 Jahre vergingen nach meiner kurzen Begegnung mit dem unglücklichen, mir damals unbekannten Buben in Falkenau, ehe ich mehr durch Zufall als durch systematische Recherche erfuhr, wer damals eigentlich unter dem Laken in der Sanitätsbaracke lag. Es war Friedrich „Fritz“ Tischler aus Königsberg an der Eger das ältere von zwei Kindern des Ehepaares Josef Tischler und Maria Tischler, geb. Rauscher, geboren am 18. 7. 1931 und schließlich mit noch nicht ganz 14 Jahren am 3. Juni 1945 seinen Brandverletzungen erlegen, die er sich etwa zwei Wochen zuvor zugezogen hatte.

Wie war es zu der Tragödie gekommen? Lassen wir zuerst den ehemaligen Königsberger Polizeibeamten Paul Ley zu Wort kommen, der sich 1963, obgleich keine Augenzeuge, folgendermaßen laut dem Bruder des Verunglückten zu dem Geschehen geäußert hat. „Für mich“, so Ley, „scheint es zweifelsfrei, dass das Unfallereignis, an dessen Folgen Friedrich Tischler gestorben ist, nicht geschehen wäre, wenn Soldaten keine Munition weggeworfen oder liegengelassen hätten. Zur Begründung führe ich an: Königsberg an der Eger lag im Kampfgebiet. Die deutschen Truppen zeigten Auflösungserscheinungen, und etwa 15 Kilometer von Königsberg entfernt fand der Krieg in diesem Raum seinen Abschluss. Soweit ich mich erinnere, sind amerikanische Truppen am 5. Mai 1945 in Königsberg eingerückt. Von da an begann eine Art gesetzlicher Zustand. Der Unfall hat sich meiner Ansicht nach Mitte Mai zugetragen und zwar im Hofraum Nr. 443. Dort lag Munition teilweise im Gelände verstreut, die vermutlich von Jugendlichen dorthin gebracht wurde“. Um welche Art von Munition es sich handelte und wie „der Unfall“ ausgelöst wurde, darüber könne er, Ley, nichts sagen. Erste medizinische Hilfe habe seines Wissens der (Königsberger) Arzt Dr. Anton Ott geleistet. Sachbearbeiter der Angelegenheit sei der Polizeioberwachtmeister Johannes Dobner gewesen.

Merkwürdig: warum sagte der Polizist nichts über den Hergang jenes „Unfalls“, während er doch präzise den Unfallort benennt? Und warum ist in seinem Bericht nicht davon die Rede, dass der Unfall noch ein zweites Todesopfer gefordert hat? Es sollen nämlich damals, wieder laut dem Bruder Tischlers, zwei Königsberger Buben, neben Fritz Tischler auch dessen Freund Josef „Sepp“ Sandner, umgekommen sein. Zum Verhängnis wurde ihnen tatsächlich der Umstand, dass noch Wochen nach Kriegsende ungenutzte, also scharfe Munition frei in der Landschaft herumlag. Beide, Tischler und Sandner, gehörten zu einer Gruppe Jugendlicher, die immer wieder loszog, um im Umkreis aufgegebener deutscher Geschützstellungen intakte Geschosse zu sammeln und zu knacken. Aus den Kartuschen, so erinnerte sich einer, der damals mit dabei war, kamen zunächst Explosivsubstanzen in Form von Stäbchen zutage und dann Säckchen, in denen sich Pulver befand. beides leicht entzündbar und für allerlei Feuerwerksspiele zu verwenden.

Mit einer solchen Beute waren die Buben an einem Maitag 1945 wieder einmal unterwegs. Zwei von ihnen, Tischler und Sandner, befanden sich bereits im Hinterhof der Königberger Bürgerschule (von Polizist Ley als Hofraum Nr. 443 benannt) und hatten ihre Stäbchen nahe der Grundstücksgrenze des Schulgebäudes aufgehäufelt. Da geschah es: Die Stäbchen fingen Feuer, es kam zu einer heftigen Verpuffung, und die damit einhergehende Flamme erfasste beide Buben, angeblich weil sie durch das Feuer hindurch in Richtung einer Umzäumungstür fliehen wollten (die sich allerdings als abgesperrt erwies). Wie es zur Entzündung der explosiven Stäbchen überhaupt gekommen war, konnte später nicht mehr genau ermittelt werden, spekuliert wurde, es könne mit einer in der Nähe befindlichen Ablagerung noch glühender Asche zu tun gehabt haben. Josef Sandner erlitt derart starke Verbrennungen, so dass er noch am gleichen oder folgenden Tag starb; Tischler wurde nach Falkenau transportiert, wo auch ihm nach qualvollem Leiden nicht mehr zu helfen war. Möglicherweise, meinte ein Augenzeuge im Rückblick, seien die Verbrennungen noch verstärkt worden, weil beide die schon erwähnten Pulversäckchen in den Hosentaschen hatten und die sich durch die Stichflamme zusätzlich entzündeten. Aber auch das ist Spekulation. Der Vorfall jedenfalls war spektakulär genug, um selbst das benachbarte Liebauthal in Aufregung zu versetzen. Und mir wurde das arme Verbrennungsopfer wahrscheinlich vorgeführt, um mich vor ähnlichen Spielereien mit dem Feuer zu warnen.

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